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Valentin Pollak

Im Mai 1940, nach dem Zusammenbruch Dänemarks und Bel¬
giens, brach in den Spalten der meisten englischen Zeitungen
eine Flut von „Anti-Alien-Propaganda“ los: „intern them all“
[sperrt sie alle ein] wurde zum Schlagwort, ich frage mich, ob
dies tatsächlich dem Empfinden der Bevölkerung entsprang oder
ob die Aufregung künstlich erzeugt wurde. Die Warnung des bri¬
tischen Botschafters in Den Haag}, dass jeder Ausländer, der mit
in Deutschland oder Österreich lebenden Personen Kontakt habe,
verdächtig sei, spielte sicher eine große Rolle dabei. Und tatsächlich
wurde in den „protected areas“ ? jeder Enemy Alien, das heißt, jeder
Mann deutscher Nationalität, der zwischen 16 und 60 Jahren alt
war, festgenommen und eingesperrt, sowohl Österreicher als auch
Angehörige des Deutschen Reichs, aber keine früheren Staatsan¬
gehörigen der Tschechoslowakei; der Status eines „Refugee from
Nazi-Opression and exempted from restrictions“ [Flüchtling vor
NS-Verfolgung und von Beschränkungen ausgenommen] half in
dieser Angelegenheit nicht.

Ich war über 60 und wir wohnten nicht in einer „protected area“
; daher befürchtete ich nicht, inhaftiert zu werden, unsere vielen
britischen Freunde verhielten sich nach wie vor freundlich und
wir schlossen sogar neue Freundschaften. Wir fühlten uns auch
durch so manche Beschränkungen, die für alle Ausländer galten,
nicht beeinträchtigt. Eines Nachmittags im Juni - ich kann mich
nicht mehr an das genaue Datum erinnern — kamen der Polizei¬
inspektor von Ware, ein Sergeant und ein Constable zu uns nach
Hause, um unsere Korrespondenz — die zum größten Teil auf
Deutsch geschrieben war — und unser Hab und Gut zu durch¬
suchen, waren dabei aber sehr freundlich. All das dauerte nicht
lange; sie fanden nichts Verdächtiges und bei der Verabschiedung
sagte uns der Inspektor: „I think we shall leave you in peace.“ [Ich
glaube, wir sollten Sie in Ruhe lassen.]

Daher war es eine böse Überraschung, als derselbe Inspektor am
frühen Morgen des 25. Junis, gerade als wir frühstücken wollten,
kam und uns mitteilte: „Ich komme Sie festzunehmen.“ Meine
Frau fragte, ob ich denunziert worden sei, aber er sagte, dass es
sich nur um eine Routinemaßnahme handle. Er schien in Eile
zu sein; ich aß einen Bissen und meine Frau packte einen sehr
kleinen Koffer mit Wäsche und dergleichen für mich. Leider hat¬
ten wir gerade an diesem Tag fast kein Bargeld im Haus, daher
konnte ich nur 5 shilling mitnehmen. An Dokumenten packte
ich mein „Certificate of Registration“, meine „Identity Card“
und den deutschen Pass ein, weiters zwei britische Behördenbrie¬
fe über die Erlaubnis, privaten Unterricht zu geben, und meine
Eintragung in das Zentralregister für Ausländer mit spezieller
Qualifikation; der Inspektor nahm mein „ration-book“, die Le¬
bensmittelkarte, an sich. Weder meine Frau noch ich waren auf¬
geregt; ich war mir sicher, dass die Inhaftierung nicht sehr lange
dauern und ich nicht schlecht behandelt werden würde.

Im Polizeiwagen trifft Pollak auf einen weiteren festgenommenen
Mann, einen jungen Anwalt aus Deutschland. Gemeinsam werden
sie zur Polizeistation in Ware gebracht, während der Inspektor für
weitere Festnahmen unterwegs ist.

Die Polizisten in Ware waren nett, sie plauderten mit uns und

boten uns Tee an, aber sie konnten und wollten uns nicht sagen,
wohin wir gebracht werden sollten.

Als schließlich einige Männer auf der Polizeistation zusammenge¬
kommen sind, werden sie in Polizeiautos nach Watford gebracht, wo
sie um die Mittagszeit ankommen.

In Watford wurden wir vom Militär „übernommen“, und von
diesem Moment an veränderte sich alles. Zum ersten Mal wa¬
ren wir von Wachen mit aufgepflanzten Bajonetten umgeben, ein
seltsames Gefühl für Männer, die bis dahin zuvorkommend, wie
Gäste behandelt worden waren und nicht verstanden, dass mit
ihnen wie mit gefährlichen Gefangenen verfahren wurde. In ei¬
nem Vorraum mussten wir unsere persönlichen Gegenstände und
Streichhölzer abgeben, dann wurden wir in eine riesige und sehr
hässliche Halle gebracht, in der viele Männer auf Bänken saßen
und Soldaten entweder auf Pritschen herumlagen oder einfach he¬
rumstanden. Viele der Männer waren alt, ich war der älteste, die
meisten von ihnen Juden, wenn nicht nach dem Glauben, so doch
nach den „Nürnberger Gesetzen“, und die überwältigende Mehr¬
heit waren Flüchtlinge der Kategorie C?; nur wenige waren deut¬
sche Staatsbürger, die vor Jahren nach England gekommen waren.

Nach langem Warten werden die Männer, die aus verschiedenen Dis¬
trikten nach Watford gebracht worden waren, in geschlossenen Lastern
ohne Sitzgelegenheiten, von bewaffneten Wachen begleitet, in das Lager
Ascot gebracht. Das erste, was die Angekommenen sehen, ist der hohe
Stacheldrahtzaun, dessen oberer Bereich elektrisch geladen ist, und ei¬
nige riesige Baracken. [An dieser Stelle fehlen vier Seiten der Aufzeich¬
nungen, die wahrscheinlich mit der Beschreibung der Zeit in Ascot zu¬
sammenfallen. Der Bericht geht weiter mit dem Transport in das Lager
Warth Mills, in der Nähe des Orts Bury, Lancashire.]

Warth Mills‘ war überaus hässlich, innen noch weit mehr als von
außen ersichtlich. Nachdem wir das mit Stacheldraht bewehrte
Tor passiert hatten, gelangten wir in einen schmalen Hof, der auf
der einen Seite von der Fabriksmauer, auf der anderen von eini¬
gen von Soldaten besetzten Baracken begrenzt war. Ein Offizier,
der Kommandant, ein Major, ein cher kleiner, magerer Mann,
mit schwarzer Augenklappe, eine Reitgerte in der Hand, fragte
jeden: „Verheiratet oder ledig?“ — und auf diese Weise voneinan¬
der getrennt wies er uns, mit der Reitgerte, den Weg in eine sehr
große und dreckige Halle mit Steinboden, die eine ungemein
deprimierende Wirkung auf uns hatte. Uns wurde aufgetragen,
Gruppen bestehend aus je 25 Mann zu bilden — und zu warten.
Nach der mehrstündigen Fahrt mussten viele von uns urinieren,
aber das war nicht so einfach, da jeder von einem Soldaten mit
aufgepflanztem Bajonett begleitet werden musste. Während des
Wartens konnte ich nicht anders, als zu der die Schlange beauf¬
sichtigenden Wache zu sagen: „Das ist eine Schande — für Eng¬
land“, und wiederholte es in der Nähe eines Offiziers; er zuckte
mit den Schultern.

Der Weg zu den sogenannten Sanitäranlagen war recht lang; ge¬
gen Ende dann ein schmaler und rutschiger Pfad mit Gefälle,
der entlang des Stacheldrahtzauns verlief — bei Regenwetter war

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