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an, ich schäme mich ein wenig für sein Äußeres, aber sofort schä¬
me ich mich noch mehr für meinen verfehlten Gedanken. Ich
setze mich zu ihm an den Tisch, er stellt mir seine Freunde vor,
irgendwelche Franzosen. Anny hat einen Platz an einem Tisch
gefunden, an dem deutsche Soldaten sitzen.

— He Pavlos, was ist los mit dir, sag an.

— Wir sind gerade aus Ungarn gekommen, ob du es glaubst oder nicht.
— Wirklich? Warst du beim Bau des Südostwalls, der die russi¬
schen Panzer aufhalten soll?

— Genau. Zweieinhalb Monate in dem Graben, du gräbst, du
gräbst und du stehst bis zu den Knien im Schnee und möchtest
vor Elend sterben. Am Abend nach der Arbeit kehrten wir in un¬
sere Holzbaracken zurück, die schlimmer waren, als die im Lager.
Um nicht arbeiten zu müssen, haben sich einige mit dem Spaten
selbst verletzt, damit sie arbeitsunfähig wurden. Einer von uns hat
sich mit eigener Hand einen Finger abgeschnitten. Tagesanbruch,
bevor es hell wird wieder Arbeit. Wie eine schwarze Schlange zieht
sich die Linie der Grabenden von einem Ende der Grenze zur an¬
deren. Frost, Hunger, Krankheit. Zu Weihnachten sind dort, wo
wir gruben die ungarischen Hausfrauen gekommen und haben
uns am Abend zum Essen in ihre Häuser geladen. Das ganze Dorf
hat sich die lange Reihe der müden Menschen aufgeteilt, so sind
zehn auf jedes Haus gekommen. Ihre Wärme und Güte hat für
kurze Zeit unseren eingefrorenen Verstand aufgewärmt. Neben
dem Teller mit dem gedünsteten Essen hatten sie auch ein kleines
Geschenk für jeden. Das Aufwärmen hat uns nicht gut getan.
Wir sind in unsere Baracken zurückgekehrt und wälzten uns wie
die Verdammten hin und her, wie sollten wir Schlaf finden. Vor
Sonnenaufgang würden wir wieder elende kleine Würmer sein,
würden endlos diesen Wall graben, um die Russen aufzuhalten,
um das Leben daran zu hindern, auch zu uns zu kommen ...
Man hört Stimmen von Annys Tisch in der Ecke.

Die Soldaten haben den Kellner gebeten, das Radio aufzudrehen.
— Ein bisserl Musik.

— Verboten!

— Verboten die Musik? Warum?

— Weil die Heimat trauert!

— Ach so!

Die Soldaten ziehen ihr Köpfe ein, auch sie sind ein bisschen ver¬
antwortlich für diese Trauer, weil sie aufgehört haben, siegreich
zu sein. Morgen ziehen sie wieder in die Schlacht; sie werden
sich wieder halb im Schlamm vergraben, werden bis zum Ende
kämpfen, bis ihre Hand neben ihren dürren, toten Körper fällt.
Aber sie sagen nichts. Nicht einmal um ein wenig Musik können
sie bitten. Nichts. Nur Krieg und Töten und die „neue Ordnung
der Dinge“ ! Sie zucken mit den Schultern.

Große, schöne Männer in schwarzen Mänteln mit Fellkrägen
und Persianermützen suchen einen Tisch.

— Das sind Ungarn, sagen Franzosen mit grünen Hüten vom
Nebentisch, Urlauber von der Ostfront. Die haben die Gefahr
gewittert und sind aus Ungarn abgehauen. Die Russen sind nah
und sie zittern vor den „Roten“. Sie haben ja nicht unrecht, wenn
wir es schon erwähnen, weil sie wie die wilden Tiere sind und
alles vernichten, wo sie vorbeikommen. Aber was hat die SS ge¬
macht, überall wo sie durchgezogen ist! In Europa war kaum et¬
was, aber in Polen und Russland haben sie geschlachtet und ver¬
brannt, so viel sie konnten. Wenn sie Partisanen fangen, stellen
sie sie in einer Reihe auf und gehen mit dem Flammenwerfer an
ihnen vorbei. In wenigen Sekunden verwandeln sich Menschen
in lodernde Fackeln ...

52 _ ZWISCHENWELT

Bei der Oper trennen wir uns von Pavlos und Anny. Ich mache
mich auf den Weg nach Hause. Plötzlich sehe ich, wie die Mili¬
tärpolizei einen jungen deutschen Offizier verfolgt. Der schafft
es in eine Tram zu springen, die gerade anfährt. Ein Schuss. Die
Tram bremst, der Körper des Jungen wälzt sich im Schneematsch.
Zitternd gehe ich auf dem einsamen Ring weiter. Dunkelheit ist
in meinem Verstand, unendlicher Kummer erfüllt mich. Durch
die nackten Äste des Parks sehe ich den Mond, der sorglos in den
Wolken läuft.

Wie eine olympische Göttin erhebt sich inmitten der Ruinen
die Votivkirche, meine Lieblingskirche, um sie herum haben die
Bomben, die ihr Ziel verfehlten, ungeheure Krater in die Erde
geschlagen. Ich gehe die Stufen hinauf und stehe vor dem ge¬
schlossenen Tor. Der Wind bricht seine Wucht an den gemei¬
ßelten Wänden. Ein einsamer Schatten im Mondlicht. Ein so
kleines warmes Ding, angelehnt an der kalten Säule. Mit der Zeit
friere ich, als ob ich eins mit der kleinen Marmorstatue werde, an
die ich meinen Kopf lehne. Die Wärme in mir schwindet lang¬
sam und die Tränen gefrieren auf meinen Wangen. Der Wind
pfeift, wenn er zwischen den zerbrochenen, bemalten Scheiben
durchzieht. Ab und zu löst sich ein kleines Stück Glas und ich
höre es, wie es in die leere Kirche fällt. Ding, macht es, und es
hört sich an wie ein Glöckchen. Meinen Lippen entkommt kein
Gebet. Schon seit langen kann ich nicht mehr beten. Ich glaube
seit damals, als die Feinde in mein Land gekommen sind, obwohl
die Menschen kniend die Nacht in den Kirchen durchwachten,
damit dieses Unglück nicht geschehe, obwohl ihre Seelen wie aus
einem Weihrauchgefäß aufsteigend schmolzen, damit Gott es
nicht geschehen lässt.

Ein einsamer Schatten inmitten einer tödlich verwundeten
Stadt. In Kürze werde ich wieder den Weg nach Hause nehmen.
Ich werde vor meinem Heft sitzen und ich werde nichts über das
schreiben können, was auf der Welt passiert, über das, was der
Mensch dem Menschen antut... Warum soll ich in diese Woh¬
nung zurückkehren? Warum soll ich vor meinem Heft sitzen? Ich
möchte hierbleiben, nicht wieder in diese zerwühlte Stadt drän¬
gen, nicht die Zerstörungen sehen, die wie abscheuliche, unheil¬
bare Wunden aufklaffen. Nicht ihre durcheinandergebrachten
Menschen sehen, die sich nur abhetzen, Tag und Nacht keuchen.
Der Mond steht zwischen zwei vorbeiziehenden Wolken, schnee¬
weiß, welche wird ihn wohl zuerst erreichen. Was für eine Schön¬
heit hat diese Ecke zu Füßen der Kirche, die gehäkelten Spitzen
gleicht!

Dreiviertel zwölf! Wir schaffen es nicht mehr in die große Fir¬
ma hinter der Oper, um die Maschinen zu reinigen, außerdem
ist der Luftschutzbunker der Hofburg sicherer. Wir machen
Spaziergänge im Vorhof der Burg, vor den Statuen, die Ziegel¬
mumien ähneln, da sie sie rundherum verbaut haben, damit
sie nicht zerstört werden. Sirenen. Pünktlich! Wir grüßen den
Portier des Statistischen Zentralamtes, den wir kennen, und
kommen als erste und beste in den Bunker, zwei Stockwerke
unter der Erdoberfläche, hinein. Auf einmal bewegt sich der
ganze Palast von Franz Joseph. Giannis packt mich am Arm
und zieht mich zu sich und von der Wand weg, die sich hin
und her bewegt. Man könnte meinen, die Erde öffnet sich. Die
Lichter flackern, danach verlöschen sie völlig. Ein Brüllen, und
man meint, ein Rudel Löwen wäre losgelassen worden, kommt,
um die Wände einzureißen und uns zu zerfleischen. Und der
Himmel war so schön, so blau. Es hat nach Frühling gerochen.