(...) 20 Jahre später lernte ich in Gyömörey den ersten Wirklichkeiis¬
fanatiker unter den Philhellenen kennen, der mir jenes Unleserliche
gedeutet hat. G. malt und misst die Schöne in all ihrer Eigenart und
Herrlichkeit, die christliche Erbin der Antike, das griechische Rom,
die geheime Hülse des griechischen Charakters bis auf den heutigen
Tag und dann zitiert er ihren schauerlichen Untergang. (...)'®
Literarisch hat Michael Guttenbrunner das Beziehungsgeflecht
zu seinen griechischen „Brüdern“ also nie aufgelöst. Noch ein
Jahr vor seinem Tod, nach Erhalt der Trauerbotschaft des ver¬
storbenen Dimos, erinnerte er sich emphatisch und sehnsuchts¬
voll jener Eindrücke, die ihn hier so stark berührten.
Dimos ist tot. Mit dieser Trauerbotschaft, die Nikos mir schickt, tritt
die einzige Nacht wieder an mich heran, die wir, zusammen mit
Gyömörey, in der Heimat des Dimos, aufeinem Dorfin Ätolien ver¬
brachten. Jene Nacht war ein hohes Haupt und trug die Milchstrafe
im Haar. Wir lagen vor dem Dorf auf einem dürren Hügel. Die
Luft war Weihrauch. Sie roch nach Heu, Dung, Mastix und Thy¬
mian, und nach dem Schweiß der Tragtiere, die unsichtbar neben
uns unter Bäumen standen, schnaubend, sich schüttelten im Schlaf
und mit den Ketten rauschten. Im weiten Umkreis bellten Hunde.
Und über allem herrschte die Stille, die ein leises Knistern von den
Sternen ist. Unser langer, viermal viereckiger Diskurs, fand unter
solchen Erscheinungen statt, würdig der ernsten griechischen Nacht,
die keinen Mohn in unsere Schalen träufte.
Vinzenz Jobst, geboren 1949 in Klagenfurt. Er erlernte den Be¬
ruf des Schriftsetzers. In Folge war er Betriebsratsvorsitzender und
leitender Sekretär der AK in Kärnten. Er gründete das Archiv der
Kärntner Arbeiterbewegung und ist Gründungsvorsitzender der Er¬
innerungsplattform Memorial Kärnten-Koroska (2000-2010). Er
war zudem Landesbildungsvorsitzender des ÖGB.
Er publiziert zur Sozial- und Regionalgeschichte Kärntens, Bio¬
grafien, Anthologien, Essays, Abhandlungen zur NS-Verfolgung
und Rehabilitierung von NS-Opfern als Beiträge zur Gedenk- und
Erinnerungskultur. 2012 erschien „Guttenbrunner. Rebellion und
Poesie“.
Michael Guttenbrunner
Cyclame mou, Cyclame mou
Das Theodorakis-Konzert musst du dir etwa so vorstellen: Ein
Pianist, drei Buzuki-Spieler (das sind griechische Mandolinen),
zwei Gitarre-Spieler, zwei Trommler (einer davon mit zwei Trom¬
meln und Tschinellen), besetzen die Bühne — die Instrumente
sind mit elektrischen Batterien verbunden, so dass ihre Tonstärke,
vom leisesten Summen bis zum Orkan gesteigert werden kann.
Mikis Theodorakis steigt herauf, betritt mit seinen Sängern die
Bühne. Er ist ein Riese, über zwei Meter groß; schlank, in einem
grauen Blusenrock (dem chinesischen ähnlich), eine kurze, breite
Mähne wollig verfilztes Haar umrahmt breit Gesicht und Kopf.
Die eine Sängerin, größer an Gestalt und Stimme, ist Maria Fa¬
randuri, die andere, weniger gewaltig, mehr braun als schwarz,
von hellerer Haut, hübsch, heißt Manou.
Der Sänger, mit einer Stimme wie ein Büffel und röhrender
1 Kärnten im Wort. Aus der Dichtung eines halben Jahrhunderts. Red.
Erich Nußbaumer. Klagenfurt 1971. S. 411.
2 _ https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/
landung-auf-kreta-1941.html.
3 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagenfurt
2012. S. 148.
4 Diess., S. 111-112.
5 Michael Guttenbrunner, Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht.
Gesammelte Gedichte. Locker. Wien 2020. S. 410.
6 Kärntner Landesarchiv Klagenfurt, Bestand Michael Guttenbrunner.
Gutachten Univ.-Prof. Dr. Holzer, 1949.
7 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagenfurt
2012. S. 53-57.
8 Michael Guttenbrunner, Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht.
Gesammelte Gedichte. Locker. Wien 2020. S. 287.
9 Karnten im Wort. Aus der Dichtung eines halben Jahrhunderts. Red.
Erich Nußbaumer. Klagenfurt 1971. S. 410.
10 Kärntner Landesarchiv Klagenfurt, Bestand Michael Guttenbrunner. —
Bezeichnend auch seine Aussage: „(...) Ich habe Griechenland gesehen, das
schönste Land, und Kreta, die schönste Insel. Meine Sehnsucht dorthin ist
grenzenlos. (...)“ / Pg. 213/GA S.14.
11 Vinzenz Jobst, Guttenbrunner — Rebellion und Poesie. Kitab. Klagen¬
furt 2012. S. 47-48.
12 Franz Richard Reiter (Hrsg.), Wer war Leopold Ungar? Ephelant. Wien
1994. S. 83 — 85.
13 Online-Compedium der deutsch-griechischen Verflechtungen. https://
comdeg.eu/artikel/95562/
s.a.: den Beitrag von Marcus Patka, Lorenz Gyömörey oder der „Grie¬
chen-Maniak“ als Eremit, in der vorliegenden Ausgabe der „Zwischenwelt“.
14 Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege. Löcker. Wien 2018. S. 169.
15 Michael Guttenbrunner, Vom Tal bis an die Gletscherwand. Reden und
Aufsätze. Löcker. Wien 1999. S. 190-195.
16 Hagen Fleischer, Griechenland. In: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension
des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.
München: Oldenbourg 1991. S. 241-274.
17 Hagen Fleischer, Griechenland — Der Krieg geht weiter. In: Ulrich
Herbert / Axel Schildt (Hısgg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des
deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung
1944-1948. Essen: Klartext 1998. S. 168-206.
18 Michael Guttenbrunner, Buchbesprechung: Lorenz Gyömörey, Grie¬
chenland. Zsolnay-Verlag 1970. Manuskript-Abschrift aus dem Bestand
von Marcus Patka.
19 Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege. Löcker. Wien 2018. S. 440.
Literaturempfehlung
Michael Guttenbrunner, Werkausgabe, Band 1: Im Machtgehege;
Band 2: Nicht völlig Tag und auch nicht völlig Nacht - Gesammelte
Gedichte. Löcker. Wien 2018-2020.
Hirsch, ist gleichfalls ein langer Kerl. Theodorakis betritt die Büh¬
ne mit langen, eiligen und zugleich schleifenden Tritten, dreht
sich sofort seinem Orchester zu, hebt die Arme und entfesselt mit
dem ersten Takt das bekannte schwirrende und marschierende
Tongewühl seiner Präludien, es folgen Marschrhythmen und
Tanzrhythmen nach jedem Maß und Gewicht, in jedem Verzö¬
gerungs- oder Beschleunigungsgrad gravierend, in jedem Über¬
gang von leise zu laut und umgekehrt faszinierend, schließlich
Donnergepolter und „Kanonengebrüll“. Das Orchester summt,
säuselt, flüstert, klingelt, läutet, schrammelt, trommelt, pfeift,
rauscht, klatscht, prasselt, heult, brüllt, donnert und knallt; es
steigert sich zum Orkan auf dem Meere; es spricht mit Entzücken
von einer kleinen Blume; es sprüht vom Sonnenstrahl in golde¬
nen Funken; du siehst „die Heiterkeit des goldnen Lichtes“, und
dazu Musik, die den Mord umschallt. (Nur im Hinblick auf die
Sänger wurde das Orchester vielfach als zu laut empfunden.)
Zuerst sang die Manou, mit der bekannten Stimme. (oder irre
ich mich?) — mit einer Stimme, die zugleich voll und hohl, ge¬