Die "Wohlmeinenden" auf dem Kriegspfad
Der Vernichtungskrieg, den das Terrorregime der Russischen Fö¬
deration gegen die Republik Ukraine führt, die Vergewaltigungen,
die Verwüstung und Plünderung von Wohnstätten, Schulen, The¬
atern, Spitälern, Kindergärten, Kirchen, Moscheen, die Ermor¬
dung von Arbeitern, die an einer Autobushaltestelle warten, durch
"Hochpräzisionswaffen", deren zivile Opfer dann als eliminierte
"Nationalisten" verbucht werden, erfüllt, so sinnlos er militärisch
scheint, eine propagandistische Funktion: Er demonstriert der ei¬
genen Bevölkerung in der Russischen Föderation, was denen blüht,
die sich den finsteren Plänen der herrschenden Clique widersetzen.
Diese Art der verbrecherischen Kriegsführung ist von Grosny,
Gutha, Aleppo her bekannt.
Daß der Vernichtungskrieg aber gleichzeitig als Argument für die¬
jenigen herhält, die der Ukraine unnötige Leiden ersparen wollen,
indem sie die Unterstützung der Ukraine mit Waffen ablehnen
und stattdessen eine Verhandlungslösung postulieren, bei der die
Ukraine mit gebundenen Händen vorgeführt werden und um des
lieben Friedens willen Gebietsabtretungen in Kauf nehmen soll, ist
ein nicht ganz unbeabsichtigter Nebeneffekt.
Das Ausmaß der Bereitschaft, andere zu opfern, um selbst unbe¬
droht zu bleiben, hat mich in seiner treuherzigen Blindheit über¬
rascht. Alice Schwarzer, Martin Walser und ihre Follower wenden
den Vernichtungskrieg zynisch gegen die angegriffene Ukraine, die
durch ihren hartnäckigen Widerstand eine "Eskalation" — die für
die Menschen in der Ukraine doch schon eingetreten ist — provo¬
ziere. Und uns zudem mit Millionen Flüchtlingen belästige. Den
Vogel schießt der Berufsavantgardist Peter Weibel mit der Behaup¬
tung ab, die Leute flüchteten massenhaft vor der in der Ukraine
herrschenden Korruption in den Westen. Das ist schon Putin-Pro¬
paganda und könnte auch von Lawrow oder Herbert Kickl sein.
Die Realität des russländischen Vernichtungskrieges gegen die Uk¬
raine beflügelt auch die gedankenlose Schöntuerei derer, die den
Krieg als einen dämonisch um sich greifenden Weltenbrand bekla¬
gen, als ein Ungeheuer, in dessen Raserei die kriegsführenden Par¬
teien so wenig unterscheidbar sind wie die Kriegshandlungen selbst
von Verbrechen gegen die Menschlickeit. Diese Entdifferenzie¬
rung, die die Einhaltung oder Nichteinhaltung des Kriegsrechts als
bedeutungslos erscheinen läßt, verbrecherischen Angriffskrieg und
berechtigte Verteidigung nicht auseinanderhält, passt sehr in den
unaufgelösten Konflikt von Kindern, Enkeln und Urenkeln derer,
die wie ein Hermann Nitsch meinten und meinen, im Krieg sei
eben "so viel Schreckliches passiert", und mit dieser wohlfeilen
Floskel die Verantwortung für das größte Menschheitsverbrechen
der Geschichte beiseite schieben und schoben und dem schicksal¬
haften Lauf der Dinge übertrugen. "Es war halt Krieg."
In der Weigerung, Recht von Unrecht zu unterscheiden, entziehen
sie sich jeglicher Konsequenz, ersetzen Parteinahme durch Vor¬
schläge, wie eine Beteiligung an den Anstrengungen, den Krieg zu
beenden, möglichst vermieden werden könne. Das reale Gesche¬
hen ist ihnen, die sie die Irrationalität des Krieges beschwören,
nicht der Erkenntnis wert, auch unausdeutbar geworden. Sach¬
kenntnis, Vorgeschichte, soziale Ursachen, internationale Verträge,
quantitative Verhältnisse interessieren sie nur am Rande. Sie beru¬
fen sich sogar auf ihre Unkenntnis als eines Garanten für die Selb¬
ständigkeit ihres von Empörung geblähten Urteils. Wirklichkeit
dient ihnen als Trampolin, sich in ihr moralisches Räsonnement
abzustoßen, mit dem sie sich an die lachen Ufer des Feuilletons
der Qualitätspresse retten. In diesen "Letzten Tagen der Mensch¬
heit" möchten sie wenigstens zitierbar dabeigewesen sein.
Ganz ähnlich verfuhren Ihresgleichen schon mit den jüdischen
Opfern, die sie als bloße Objekte, nicht als lebendig tätige Men¬
schenwesen in einen Schulddiskurs zogen, der letztlich darauf hin¬
auslief, die ungeheure Schuld der Nationalsozialisten feingerieben
über die ganze Gesellschaft zu verteilen und jedes Erinnern an
Widerstand an dessen erwiesener Ohnmacht zu neutralisieren.
In das also am eigenen Wohlergehen sehr wohl interessierte Räson¬
nement mischt sich immer öfter die geheuchelte Sorge, jetzt wür¬
den soldatisches Helden- und Märtyrertum, Patriotismus und gar
Nationalismus wieder um sich greifen. Letzteres ist in der Tat nicht
zu übersehen. Die friedfertigen Bürger gefallen und gefielen sich in
der Beschönigung des Nationalsozialismus, indem sie Nationalis¬
mus und Nationalsozialismus gleichsetzten. Daß der Widerstand
gegen Hitlerdeutschland in den besetzten Ländern, ob in Frank¬
reich, Griechenland, Jugoslawien, Polen, Norwegen und letztlich
auch Italien und Österreich, ein nationalistischer war, der auf die
Wiederherstellung nationaler Souveränität und Integrität zielte, ist
den Leuten eine Peinlichkeit, die bei österreichischen Gedenkstun¬
den möglichst verschwiegen bleiben muß.
Diese Menschen haben 75 Jahre danach immer noch nicht begrif¬
fen, daß im Zentrum der Nazi-Ideologie nicht die Nation, sondern
die über den Antisemitismus sich definierende Rasse stand. Wie
übrigens im geopolitschen Diskurs der erlauchten Tafelrunde Pu¬
tins im Kreml auch.
Das vorliegende Heft Nr. 1-2/2022 erscheint mit außerordentli¬
cher Verspätung, die vor allem durch die Erkrankung eines der
Herausgeber mit Covid19 und daran sich anschließende Sympto¬
me rascher Ermüdbarkeit und Überreiztheit zu erklären ist. Wir
bemühen uns, das Heft Nr. 3/2022 mit einem Schwerpunkt zur
Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Judenfeindlichkeit
im Oktober 2022 herauszubringen. Erschüttert und gebannt hat
uns auch der verbrecherische Angriffskrieg der Russischen Födera¬
tion gegen die Ukraine.