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Ganna Gnedkova

Das Spiel des Nachbarn

Von meinem Nachbarn habe ich gelernt, Durak (russisch: Idiot)
zu spielen. Eines Tages tauchte er einfach mit einem Stapel
Spielkarten bei mir auf, setzte sich an den Tisch und begann
gekonnt auszuteilen. „Setz dich“, sagte er und klopfte einladend
auf die Bank. Als ich zögerte, fügte er hinzu: „Setzt dich, solange
ich gut gelaunt bin. Ich bringe dir was bei.“ Und wir begannen
zu spielen.

Anfangs gewann mein Nachbar jedes Spiel. Ich hatte den
Eindruck, dass er mir eine der scheinbar einfachen Spielregeln
bewusst verschwiegen hatte und dass er nicht zu mir gekommen
war, um Karten zu spielen, sondern um sich auf meine Kosten
aufzubauen. Wenn er die Karten, die er stets in der Tasche mit
sich herumtrug, behände mischte, schien er allmächtig. Wenn
er im Spiel zum Angriff überging, schlug er mich sofort in die
Flucht und überhäufte mich mit Karten.

Sein Lieblingstrick war es, von Anfang an einen Blitzkrieg gegen
mich zu führen und mich mit all seinen hohen Trümpfen zu
überrumpeln, sogar auf die Gefahr hin, dass ihm am Ende keine
für das weitere Spiel übrig blieben.

Zwei Sechsen behielt er in der Hand: Die zwei schwächsten
Karten. Diese legte man dem Besiegten am Ende des Spiels
triumphierend auf die Schultern — damit wurde der Besiegte zum
„Dummkopf mit Schulterstücken“.

Um diesen letzten Ausdruck - „Dummkopf mit Schulterstücken“
— richtig zu übersetzen, habe ich beim Schreiben dieses Texts
gegoogelt, wie man dieses Spiel, das mir mein Nachbar vor vielen
Jahren beigebrach hatte, auf Deutsch nennt. Dabei habe ich
von Wikipedia erfahren, dass Durak ein traditionell russisches
Spiel ist, das in sowjetischen Zeiten sehr populär war. Zudem
habe ich erfahren, dass man dieses Spiel zu zweit, zu dritt, sogar
zu acht spielen kann. Mein Nachbar und ich haben es immer
nur zu zweit gespielt und er hat mir nie erklärt, dass noch mehr
Leute mitspielen dürften, mit denen ich mich gegen ihn hätte
verbünden können.

Noch eine Sache, die ich erst mit der Zeit bei der Beobachtung
meines Nachbarn gelernt habe, ist, dass man durchaus Chancen
hat zu gewinnen, wenn man sich alle Karten, die gespielt wurden,
im Gedächtnis behält und somit seinen Bluff enttarnt.

Der Informationskrieg unseres russischen Nachbarn gegen die
Ukraine kommt einem systematisch und mächtig vor, solange
man nicht auf die bereits gespielten Karten achtet.

2014, als die Krim annektiert wurde, wurde die Karte „Schutz
der diskriminierten Russischsprachigen“ dem demokratischen
Westen gegenüber ausgespielt. Die Karte „Die Halbinsel Krim
war nur ein Geschenk Nikita Chruschtschows, das Russland
zurückverlangt“ sollte die Annexion in den Augen des eigenen
Volkes rechtfertigen.

Sich dadurch ermächtigt fühlend, wurde unser Nachbar

unersättlich und eroberte auch die östlichen Regionen des
Landes, ohne sich darum zu kümmern, wie vielen Soldatinnen
und Soldaten dieser Krieg im Osten das Leben kosten würde,
wie viele Zivilisten der proklamierten Donezker und Lugansker
Volksrepubliken von den Separatisten beraubt und umgebracht
würden, wie viele von ihnen so wie der ukrainische Journalist
Stanislav Aseyev in russischen Konzentrationslagern gefoltert
werden würden. Paradoxerweise wurde dabei die Karte „Die
Ukraine kümmert sich nicht um ihre Leute im Osten“ ausgespielt.
Die Karte „Die neue nach Euromaidan entstandene Regierung in
Kyjiw ist eine illegale Junta“ sollte diesen Schritt für die russische
Bevölkerung, die seit 1917 keine erfolgreichen Revolutionen
gegen ihre eigenen Machthaber mehr miterlebt hat, legitimieren.

Die zwei schwächsten Karten wurden von 2014 bis 2022
immer wieder gespielt. Russland bezeichnete die Ukrainer
als „Faschisten“ und „Banderiwtsi“ — der Name spielt auf den
ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909 — 1959) an.
Die rasche ,,entnazifizierende“ Invasion im Februar 2022 soll
nun der endgiiltige Triumph sein. Die zwei Sechsen sollen der
„illegitimen ukrainischen Regierung“ wie Etiketten auf die
Schultern gelegt werden: „Neonazis“ und „Rassisten“.

Bei seinen Bemühungen spielt dem Nachbarn die im Westen
vorherrschende negative Konnotation des Wortes „Nationalismus“
in die Hände wegen des 2014 neuentdeckten kulturellen und
nationalen Selbstbewusstseins der Ukrainer, das sich mit den
Begriffen „Patriotismus“ oder „Nationalismus“ beschreiben ließe.
Aber aus westlicher Sicht wird häufig der eigene Kontext über den
Blick auf die spezielle politische und gesellschaftliche Situation
der Ukraine gestülpt.

Die Idee des Nationalismus als Selbstfindung der Nation,
die Herausbildung und Wiederfindung einer nationalen
Identität, die über Jahrzehnte hinweg verboten, verfolgt und
unterdrückt wurde, unterscheidet sich grundlegend von einem
Nationalismus, der die eigene Nation, die eigene Herkunft über
andere stellt und andere verachtet, für wertlos erklärt. Es ist
der Unterschied zwischen Nationalismus als dem Entwickeln
eines Selbstvertrauens, eines Selbstwertes, der die eigene Kultur
und Tradition als gleichberechtigt und gleichwertig zu anderen
Kulturen und Traditionen zu entwickeln versucht, und einem
Hegemonial-Nationalismus, der danach strebt, die eigene Kultur,
Tradition und Nationalität über andere zu stellen, sich andere
untertan zu machen. Der seit der Revolution im Jahre 2014
vorherrschende Nationalismus — oder Patriotismus - ist einer der

Selbstfindung und nicht der Selbstüberhöhung.

Im Kontext eines Krieges, der sowohl auf dem Schlachtfeld als
auch in den Medien, in den Köpfen der Menschen ausgetragen
wird, ist natürlich jede gesellschaftliche Frage, unabhängig von
ihrer tatsächlichen Größe, ein Angriffspunkt. In Europa gibt
es wohl kaum eine Gesellschaft, an deren Rändern sich keine
extremen Gruppen befinden. Faschisten, Neonazis, Anarchisten
etc. sind leider Teil moderner Gesellschaften, und in Zeiten großer
Unsicherheit sind es oft diese Gruppen, die zu überproportionaler

August 2022 5