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Philososphisches Forum zum

22. März 2022, “Philosophisches Forum” im ORF, mit Lisza
Hirn, Konrad Paul Liessmann, Wolfgang Müller-Funk und an¬
deren. Ja, die Russen und die Ukraine. Viele Worte über Putin,
kaum ein Wort über Wolodymyr Selenskyj, nicht einmal seine
jüdischen “Wurzeln” werden extra besprochen. Die Rede ist
von Imperialismus ohne nähere Bestimmung dessen, worum es
sich dabei handelt. (Vielleicht eine in der menschlichen Natur
liegende unausrottbare Herrschsucht?) Auch daß man es wieder
mit einem Rückfall ins 19. Jahrhundert zu tun habe. Doch es ist
leider Gegenwart. Seltsamerweise fallen die Worte Nation und
Hegemonie nicht. Wo die Begriffe fehlen, stößt der Sturm aus
der Vergangenheit die Fenster zur Welt gleich wieder zu. Lisza
Hirn macht immerhin auf Aleksandr Dugins in Rußland ein¬
Alußreiches, von Putin und den Seinen geschätztes Werk “Die
Grundlagen der Geopolitik” aufmerksam, während ihr Mentor
Liessmann die Gelegenheit ergreift, eine Lanze für das lange Zeit
missachtete Wörtlein “Realpolitik” zu brechen. Dann misslingt
ihm die etwas fragile Überleitung zu Nietzsches “Umwertung
aller Werte”. Haften bleibt, dass er meint, Wertvorstellungen
seien nicht festgeschrieben und könnten sich in Anpassung an

Walter Thaler

Krieg gegen die Ukraine

die Realität rasch wandeln.* Er vernachlässigt, daß “Werte” ge¬
rade aufgrund ihrer beharrenden Kraft, ihrer Zählebigkeit im
Guten und im Bösen als “Werte” angesehen werden. Das bringt
ihm die anwesende Theologin und Sozialforscherin in einem
kurzen Lehrgang gleich bei, indem sie den ontischen Zweifel
durch den empirischen Befund ersetzt. Sie macht den bei wei¬
tem vernunftbegabtesten Eindruck unter den Diskutanten, die
sich anfangs darüber austauschen, wie “fassungslos” sie ange¬
sichts des kriegerischen Treibens seien. In der Fassungslosigkeit
konstituiert sich sogleich ein durch gemeinsame Distanz und
Begriffstutzigkeit kurzgeschlossenes empathiefreies “Wir”, das
sich moralisierend über das draußen in der Welt Geschehende
ausbreitet, wobei den UkrainerInnen eine ähnlich passive Rolle
zugedacht ist wie den jüdischen Opfern in den ethischen Diskur¬
sen Nachkriegsdeutschlands. Kein Wörtlein des Mitleids. Keiner
hat mitgebracht auch nur ein Bildchen, ein Sätzchen zur Ver¬
anschaulichung, zur Vergegenwärtigung großen Menschenleids.
Also moralische Selbstbespiegelung im Rahmen dieses seltsamen,
zwischen ängstlicher Betroffenheit und Mißachtung der Betrof¬
fenen oszillierenden “Wir”. — K.K.

Von Moralaposteln und Auschwitzkeulen

Vom Wegschauen zum Zuschauen und zum Mitmachen sind
es nur kleine Schritte. Nicht nur Mauthausen ist das sichtbare
negative Konzentrat des alltäglichen Schreckens im national¬
sozialistischen Terror-Regime. Auch die Sonderlager beim Bau
der Wasserkraftwerkanlagen in Kaprun! und im Oberpinzgauer
Stubachtal bei Uttendorf?, in denen tausende russische und uk¬
rainische Kriegsgefangene unter unsagbar harten Bedingungen
in eisiger Höhe arbeiten mussten, sind historische Realität.

Die Erinnerung daran in der Zeit zwischen 1945 und den spä¬
ten sechziger Jahren war von einem eisigen Schweigen geprägt,
was die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus betraf.
Der Wiener Historiker Gerhard Botz spricht von einem „weit¬
gehenden Vakuum der historischen Erinnerung“. Die Menschen,
die den Zweiten Weltkrieg und die Not der Nachkriegszeit über¬
standen hatten, wollten daran nicht mehr erinnert werden. Vie¬
le, weil sie ihre Mitschuld nicht eingestehen wollten oder weil
Familienmitglieder involviert gewesen waren. Die meisten, weil
sie mit der Bewältigung ihrer persönlichen Notsituation voll aus¬
gelastet waren. An den höheren Schulen wurde in dieser Zeit der
Geschichtsunterricht mit dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen
und damit das kollektive Schweigen zementiert. Leider machte
auch die wissenschaftliche Forschung lange Zeit einen weiten
Bogen um Austrofaschismus und Nationalsozialismus.

Als dann in den siebziger Jahren die Erinnerungskultur langsam
Fahrt aufnahm, stand vor allem die Vernichtungsmaschinerie
der Konzentrationslager im Zentrum des Interesses: die fabrik¬
mäßige Vernichtung von Juden, Roma und Sinti, politischen
Gegnern, von „bolschewistischen Untermenschen“ und von so¬
genannten „Ballastexistenzen“ (Menschen mit körperlichen und

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geistigen Behinderungen). Der Mikrokosmus_ terroristischen
Geschehens in den kleinen Städten und Dörfern in Österreich
blieb noch sehr viel länger ausgeblendet, zumal in der Provinz
der prozentuelle Anteil der Juden an der Bevölkerung ein we¬
sentlich geringerer war alsin Wien und den Landeshauptstädten.
Nach dem Ende der Schreckensherrschaft war in Dörfern und
Märkten auch die Aufarbeitung deutlich schwieriger, weil, wo
jeder jeden kennt, die zwischenmenschlichen Klüfte sich rascher
in unüberbrückbare Schluchten verwandeln als in der Anony¬
mität der Großstadt. Daher wurde die Problematik der eigenen
Vergangenheit und der von Familienangehörigen noch länger in

Dunkel gehüllt.

Auch in der Provinz hat eine durchgreifende Arisierung, also die
Enteignung jüdischen Eigentums, durch die Nationalsozialisten
und dessen Übertragung an treue NS-Parteifunktionäre oder
an den Staat stattgefunden. Die biologistische Einstellung, dass
die jüdische „Rasse“ die Ursache für die politischen und sozia¬
len Verwerfungen sei, zielte darauf ab, die jüdische Bevölkerung
zunächst wirtschaftlich und später auch biologisch zu vernich¬
ten. Hinter den antijüdischen Verfolgungsmaßnahmen standen
neben der rassenideologischen Komponente auch wirtschaftliche
Interessen der NS-Parteianhänger. Die Enteignungen wurden
formaljuristisch als „Verkauf“ inszeniert, wobei der Enteignete
nur einen Bruchteil des Verkehrswertes als Abgeltung erhielt,
zumeist weniger, als was er/sie benötigte, um die „Reichsflucht¬
steuer“ zu bezahlen, um ins Ausland flüchten zu können. Nach
Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 führten die
ständig steigenden Erfordernisse der Kriegswirtschaft zu einer