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Ulrich Hermann

1983 — zum 50. Jahrestag der Bücherverbrennung: Da fing es
an, bei Hanser der erste Band mit Kramergedichten. Liebe auf
den ersten Blick oder aufs erste Lesen: „Im Lößland“. Und da
war's um mich und meine Selenruh‘ geschehen. Jemand traf ei¬
nen Punkt in mir — der ich der Lyrik schon lang verfallen war, seit
meiner Pubertät, natürlich — der eine Saite in mir zum Klingen
brachte, ganz speziell als Musiker (Gesang und Gitarre).

Schon vorher hatte ich, seit ich Carl Michael Bellman, den
Schwedischen Dichter-Musiker für mich entdeckte und nachge¬
dichtet hatte, Lieder geschrieben, hochkompliziert, verkünstelt
und originell- meiner Meinung nach.

Jetzt kam da ein Dichter, der einen so eigenen Tonfall, einen so
eigenen Rhythmus in seinen größtenteils gereimten Gedichten
hatte, dass das in mir ganz neue Türen aufmachte.

Zu diesen äußerst genau beobachteten und geschriebenen Ge¬
dichten über Gott, die Welt, die kleinen Leute und all jene, „die
ohne Stimme sind“, passten keine Schönberg’schen oder We¬
bern’schen 12-Ton-„Melodien“ (die man in hundert Jahren wie
Gassenhauer vor sich hin pfeifen würde, wie Schönberg einmal
mutmaßte).

Nein, wie es hieß: „Ich sing Euch ein Lied, denn gesungen muss
sein...“ das musste singbar sein, zum sofortigen Mitsingen, zum
„und fallt alle mit ein!“ Also kam zur Vertonung — mit meiner
Gitarre — nur das Modell des „VolxLiedes“ in Frage, das war klar.
Und Dank vieler Musenküsse gediehen im Lauf der Jahre auch
ein paar Lieder, die Kramers Wunsch erfüllten, was ich beim
gemeinsamen Singen in meinen Kursen an der VHS -München
immer wieder erfreut feststellte: geschafft!

Das war der Anfang! Zur Geburt meines zweiten Sohnes Chris¬
topher, am 29.10. 1983 abends, wurde mir „Beim Stromwirt“ ge¬
schenkt und im Weiteren ließen mich Kramers Gedichte — ich
hatte inzwischen natürlich die drei Bände der gesammelten Lyrik
bei mir stehen — nicht mehr los, erst vereinzelt, aber als ich 2012
für einem Urlaub auf der Insel Juist die drei Bände mitgenommen
hatte, da küssten mich die Musen nicht nur, nein, sie knutschten
mich förmlich: Eine ganze Reihe von Vertonungen entstanden,
die sich auch bald zum ersten Band verdichteten.

Seither kommen mir beim neuerlichen Lesen seiner Gedichte im¬
mer wieder die Faszination und der unvergleichliche Tonfall zum
Vorschein, der mich Theodor Kramer neben Rilke und Brecht als
den Dritten in dieser Troika stehen lässt.

Die „Heilige Corona“ — wie ich sie nennen darf — brachte dann
die entscheidende Wende, auch in meinem künstlerischen Le¬
ben: Zeit, keine Termine, keine Verpflichtungen, also ran an die
Erfüllung der lange aufgeschobenen Träume: Schreiben, Malen,
Komponieren! (Im „Unruhestand bin ich schon seit 2012/13.)

Das Geschenk eines zweimonatigen Aufenthalts bei einer Freun¬
din in Schweden, das relativ sorgenfreie Alltagsleben hier in
München und ein „FLOW SUMMIT 2021“ haben es in diesem
Jahr noch einmal in einen „Rausch“ gesteigert:

Seit April in diesem Jahr habe ich — nach 64 Jahren des Traumens

32. ZWISCHENWELT

— meine erste Symphonie für großes Orchester komponiert. In¬
zwischen arbeite ich an der Fünften -tatata Taa -.

Im Zusammenhang mit meinen Symphonien gelangten auch
meine Kramerlieder dazu, denn das Prinzip dieser „Zwil¬
lings-Spiele“ (so der Obertitel der ersten drei), ist die Collage
verschiedenster Musikstücke, eigener und die anderer, verstor¬
bener Komponisten. Daraus ergab sich dann die Idee, einen Teil
meiner Kramerlieder in SuitenForm zusammenzufassen und für
kleines Orchester zu bearbeiten.

Herausgekommen sind 12 Kramerlieder-Suiten zu den Themen:
Frühes — Jahreszeiten — Natur — Vom Essen und Trinken — Liebe
— Vermischtes — Dich und Mich - Visionen — Nacht, Mond und
Träume — An Diese und Jenen — Weinseliges — Herbstliches

Gerade die Prophetie einiger seiner Gedichte (Die sterbenden
Flüsse vom 28. Oktober 1928!!!) reizte natürlich, die Zerstörung
auch musikalisch im dritten Teil nachzuvollziehen.

Durch diese Arbeit bin ich wieder einmal auf Lesen seiner
Gedichte gekommen und gerade in den letzten Wochen auch
zum Vertonen. Nachdem ich inzwischen Opa von zwei Enkel¬
kindern wurde, kamen natürlich seine vielen Schlaflieder zum
Vertont-werden. Aber immer wieder begegnen mir neue Schätze,
bisher überlesene oder nicht wahrgenommene.

Mit „meinem“ seit über dreißig Jahren bestehenden Senioren-En¬
semble „DIE ALTEN RÖMER“ (unsere Damen und Herren
sind teilweise über 80) der Münchner Volkshochschule habe ich
die ideale Gruppe, um diese Kramerlieder-Suiten eine nach der
anderen im Lauf der nächsten Zeit (hoffentlich) zu musizieren
und zu erproben. Für diese Besetzung (Fl, Cl, Vl, Vla, Ve, Git,
Mharm, Kb-Git ) habe ich sie auch komponiert.

Alles in Allem hat die Begeisterung für Kramers Gedichte nie
aufgehört und wird sicher anhalten, denn immer neue Facetten
kommen für mich zum Vorschein, auch wenn ich mir eine Verto¬
nung — für mich — seines „Requiems für einen Faschisten“ noch
immer nicht vorstellen kann und will, obwohl gerade dieses ein¬
malige Gedicht für die heutigen Zeitläufte wieder mal äußerst
passend ist.

München, 25. Oktober 2021

Ulrich Hermann, geb. 1947 in Berlin, Musiker und Schriftstel¬
ler mit Vorliebe für alle neun Musen. Nach 18 Semestern Studium
(Germ. Nordistik, Musikwissenschaft u.a.m.) doch bei der Musik
gelandet, Sänger und Gitarrist, Maler und Komponist, Lyrik-Lieb¬
haber, bes. Brecht, Rilke und Theodor Kramer.