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Wohnungspläne sowie Beispiele ihres Schaffens als Designerin für
Stoffe, Möbel und Kinderspielzeug mit erhellenden Informationen
zur Anschauung gebracht.

Geboren 1898 als Friedl Dicker in Wien, wuchs sie in einem bür¬
gerlich-jüdischen Elternhaus auf. Ab 1914 war sie Schülerin an der
Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, ein Jahr später inskribierte
sie in der Textilabteilung der Kunstgewerbeschule. Dort besuchte sie
die Zeichenklasse des bedeutenden Kunstpadagogen Franz Cicek;
zusätzlich spielte sie, um sich den Schulbesuch zu finanzieren, Mari¬
onettentheater auf der Straße, für das sie selber Geschichten erfand
und die Requisiten entwarf. Ab 1916 studierte sie bei Johannes It¬
ten, und bereits mit 19 Jahren betrieb sie mit ihrer Freundin Anny
Wottitz ein Atelier. Diese Kooperationsfähigkeit blieb ein Merkmal
ihres Schaffens. Durch einen Kompositionskurs bei Arnold Schön¬
berg lernte sie ihren Lebensgefährten und späteren Geschäftspart¬
ner Franz Singer kennen. Als Itten 1919 dem Ruf von Gropius nach
Weimar ans Bauhaus folgte, übersiedelte mit ihm eine Reihe „ver¬
einigter Individualisten“, darunter auch Friedl Dicker. Sie wurde,
wie Kolleginnen meinten, zu einer von Ittens besten Schülerinnen,
arbeitete u.a. an der Litho-Presse, lernte Metallbearbeitung und
Gießverfahren.

1923 eröffnete Singer mit ihr in Berlin die „Werkstätten Bildender
Kunst“, in denen sie Holzspielzeug, Spiele und Schmuck entwarfen
und Aufträge im Bereich Textil- und Buchgestaltung bearbeite¬
ten. Künstlerische Grenzüberschreitungen führten zu einem En¬
gagement in Berthold Viertels Ensemble „Die Truppe“. In Wien
arbeiteten sie für Robert Musils Posse „Vinzenz und die Freundin
bedeutender Männer“. Aufträge und ihr genreübergreifender Schaf¬
fensdrang, der, wie mir scheint, ihr Leben begleiten sollte, ließen sie
zwischen Leipzig, Köln, Berlin und Dresden pendeln. In den Jahren
danach — wieder in Arbeitsgemeinschaft in Wien — entwickelten
sie Stapelstühle, aufklappbares Sofas, mobile Lampen (die stehen,
hängen oder liegen konnten) u.v.m.

Mit ihrer Freundin Martha Döberl betrieb sie ein Buchbinde- und
Textilatelier. 1930 erhielt das Atelier, an dem Singer wieder mit¬
arbeitete, den Auftrag, einen Kindergarten für den Stadtteilverein
Goethehof zu entwerfen. Die Einrichtung, der Montessori-Pädago¬
gik verpflichtet, wurde als Musterkindergarten des „Roten Wien“
bekannt. Im Verlauf der Februarkämpfe 1934 wurde der Kinder¬
garten überfallen und teilweise zerstört, 1938 vollständig dem Erd¬

DIT,
Gebrauchswert
verwirklicht sich

Man braucht es
Was nützlich ist,
nur.. hat Gebrauchswert

| Gebrauchswert /
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Notzlichkeit- a

Scans aus dem Film „Das
Montagen, 1932/33

Kapital“,

boden gleichgemacht.

Bereits 1931 wurde sie Mitglied der kommunistischen Partei. In
diesen Jahren der Weltwirtschaftskrise, die Nöte der Massen vor
Augen, verstärkte sie, neben dem Zeichenunterricht für Kinder, Ju¬
gendliche und Kindergartenlehrerinnen, ihr soziales Engagement;
ab 1932 gestaltete sie in Anlehnung an John Heartfield und den
Konstruktivisten Gustav Klucis politische Fotomontagen im Sinne
einer kritischen, marxistischen Gesellschaftsanalyse.

Am 14. November 1934 wurde sie verhaftet und kam in Untersu¬
chungshaft; mit anderen politisch Verfolgten vor ein Schöffenge¬
richt geladen wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach
zwei Wochen Haft begnadigt entschloss sie sich, aus Angst vor wei¬
teren Repressalien in die Tschechoslowakei zu emigrieren. Über den
Kontakt zu ihrer Tante in Prag lernte sie deren Sohn Pavel Brandeis
kennen und lieben. Nach ihrer Heirat übersiedeln sie nach Hro¬
nov in Nordböhmen, wo sie in einer Textilfabrik Anstellung finden.
Hier erfolgte auch eine intensive Hinwendung zur Malerei: Ihre
Porträts, Doppelporträts, Stadtansichten und Landschaften sind
stilistisch schwer einzuordnen. Während sie bei Landschaften eher
zu einem impressionistischen Pinselduktus tendierte, sind die städ¬
tischen Motive (Bahngleise in Prag-Nusle, Ansicht von Hronov) eher
im Stil der Neuen Sachlichkeit umgesetzt. Biographisch geprägt
und von einem unheimlichen Ausdruck sind ihre nach der Haft in
Wien entstandenen Bilder Verhör und Verhör I- II. Eines der letzten
Bilder hat Lenin und Don Quijote zum Ihema. Ein rätselhaftes
Werk, das möglicherweise auf gewisse Parallelen im Kampf der bei¬
den Figuren anspielt, der eine realistisch-pragmatisch, der andere
weltfremd-scheiternd.

Mitte Dezember 1942 wurde sie gemeinsam mit ihrem Mann —
im März 1939 war von Hitler das Protektorat Böhmen und Mäh¬
ren proklamiert worden — ins Ghetto Theresienstadt deportiert,
wo sie im Mädchenheim L 410, im Knabenheim L 417 und im
Heim L 318 Zeichenunterricht gab. Im Sommer 1934 konnte sie
sogar eine Ausstellung mit den Kinderzeichnungen organisieren
und einen Vortrag über ihre kunstpädagogische Arbeit mit Kindern
halten. Diese Aufzeichnungen sind erhalten geblieben, so wie die
unter ihrer Obhut entstandenen Kinderzeichnungen, weil Friedl
Dicker-Brandeis sie in einen Koffer gepackt hatte und dieser von
einem Freund versteckt werden konnte. Sowohl das Manuskript des
Vortrags als auch eine Auswahl der aus Theresienstadt geretteten
Kinderzeichnungen sind in einem eigenen Raum zu sehen.

Im September 1944 wurde ihr Mann, der als „Instandhalter“
im Bauhof eingesetzt war, nach Auschwitz deportiert; Friedl Di¬
cker-Brandeis folgte ihrem Mann freiwillig aus Liebe. Sie wurde
schon Anfang Oktober 1944 in der Gaskammer ermordet. Ihr
Mann hingegen überlebte den Holocaust.

Die Ausstellung im Lentos zu Linz ist ein Meilenstein in der Auf¬
arbeitung des so fulminant begonnenen, mit Fleiß und in Koope¬
ration vorangetriebenen künstlerischen Lebensweges von Friedl
Dicker-Brandeis, der erstmals durch den Austrofaschismus unter¬
brochen und durch den Nationalsozialismus auf grausame Weise
beendet wurde. Bildvergleiche heben erstmals Friedl Dicker-Brand¬
eis‘ Stellenwert inn der mitteleuropäischen Malerei hervor. Zeit soll¬
te man sich auch für die Filmdokumente nehmen, in denen u.a.
Überlebende über ihre pädagogische Arbeit sprechen, die im Okto¬
ber 1944 brutal mit der Deportation nach Auschwitz endete, wo sie
wie die meisten der von ihr unterrichteten Kinder ermordet wurde.
Im Erfassen und Einschätzen der vielfältigen Tätigkeiten von Friedl
Dicker-Brandeis war die Arbeit der russisch-israelischen Schriftstel¬

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