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Rose Meller
Die Gelsen

Abends, zu der Stunde, in der die Dunkelheit den Schmutz von den
grauen Häusern zu streichen begann und der Gasmann das Licht
mit seinem langen Stock zu den wartenden Gaslampen hob, tauch¬
ten die Gelsen auf in der Stadt. Kamen irgendwo aus der Vorstadt,
kamen leise, ungemerkt, erwartungsvoll. Gingen Hand in Hand,
wie kleine Kinder, er, der Mann, rechts, sie, die Frau links. Hatten
fahle, graue Gesichter, niedere Stirnen farbloses Haar, beide wa¬
ren — nein, man konnte nicht wissen, wie alt sie eigentlich waren.
Vielleicht vierzig, denn um ihre Augen herum und in den Stoppeln
des Mannes saßen verschwommene, träge Falten, vielleicht auch
erst dreißig, denn — doch das wollte ich erst später erzählen —
sie hatten einander noch einmal gern. Er hatte graugelbe Hosen
an, die ihm zu lang waren und über den breiten, runden Schuhen
einknickten, sie hatte einen graugelben Rock, der ihr zu weit war
und beim Gehen zwischen den Beinen zusammenschlug. Er hat¬
te ein graues Hemd und eine zerrissene Mütze am Kopf, sie hatte
schwarze Strümpfe und am Hinterhaupt einen Knoten aus dünnen,
zusammengeflochtenen Haaren. An diesem Knoten und an diesem
Rock, an diesen Bartstoppeln und an dieser Hose konnte man se¬
hen, daß sie, die links ging, die Frau, er, der rechts ging, der Mann
war, sonst hätte man es nicht gewußt, denn sie sahen beide gleich
aus, hatten beide den gleichen trägen Gang. Ihre freien Hände —
seine rechte und ihre linke — hingen unbeholfen und von ihrem
Gehen unberührt herunter, fast bis zu den Knien, denn sie hatten
lange Arme und kurze Beine und außer einander bei der Hand zu
nehmen, hatten sie nichts zu tun. Den Tag verschliefen sie irgendwo
auf einem Strohsack, in einem Massenquartier oder auch nur unter
einem Tor, manchmal in einem Bett, wenn es ihnen gut ging, es
war ihnen einerlei. Aber wenn die Dunkelheit einbrach, ging eine
merkwürdige Veränderung mit ihnen vor. In ihren Augen glomm
ein seltsames Licht auf, machte sie hell und groß, sie krochen aus
ihren schmutzigen Schlupfwinkeln hervor, Hand in Hand trotte¬
ten sie in die Stadt. Vor den größten Auslagen unter den blenden¬
den Bogenlampen blieben sie stehen. Hand in Hand. Und starrten
ins Licht. Starrten den flitzenden Autos nach, am Halse einer Frau
leuchtete ein Smaragd auf, eine Welle von Parfüm blieb nach ihr
zurück, sie sahen ihr nach, dann sahen sie einander an, wunschlos
und glücklich, als wäre ihnen etwas Herrliches widerfahren. Die
Lichtreklame des Warenhauses blitzte auf und begann sich zu dre¬
hen, sie standen da mit offenem Mund, Hand in Hand, und wieder
sahen sie einander glücklich an.

Manchmal hielt sie einer — demütig wie sie standen, mit offen hän¬
gender Hand — für Bettler und steckte ihnen eine Münze zu; von
diesen Spenden lebten sie, sie selbst bettelten nie und bedankten
sich nie, erstaunt nahmen sie das Geld, steckten es ein oder hielten
es fremd und teilnahmslos in der Hand.

Manchmal wurden die Flügel zur Halle eines großen Hotels auf¬
gerissen, im strömenden Licht verneigten sich Diener vor einem
Herrn, sie vergaßen vor glücklichem Staunen ihre Demut und stan¬
den breitspurig so weit voneinander entfernt, daß ihre Arme sich
spannten. Aber los ließen sie sich nicht.

Sprach sie einer an, erhielt er selten Antwort. Meist war ein gut¬
mütiges Lächeln ihre ganze Erwiderung. Nur wenn der Fragende

auf Antwort beharrte, wurde dieses Lächeln erschrocken, hilflos
scheu. Aber es kam selten vor, daß sie jemand ansprach. Denn sie
waren wie die Gelsen, die unscheinbar, grau und rechtlos das Licht
umschwirren, die man nur merkt, wenn sie mit verbrannten Flü¬
geln fallen, dann verschwinden sie wieder, man vergißt sie gleich.
Auch miteinander sprachen sie kaum. Sie waren einander so we¬
sensverwandt, daß sie der Worte nicht bedurften, standen sie am
Rande eines Lichtkreises und starrten hinauf, so waren sie in ihren
zerlumpten Kleidern, mit ihren rotgefrornen Händen, ihren fahlen
Gesichtern die wunschlosesten Menschen der Welt. Jeder konnte
das an ihrem Lächeln merken, sahen sie einander verstehend an;
aber niemand sah es, denn es kümmerte sich niemand um sie. Bei
jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit gingen sie, magisch ange¬
zogen, ihren Weg zum Licht. Im Winter waren es die lebendigen
Teile der Stadt, im Sommer die hellerleuchteten Anlagen, in denen
Lampions brannten und Musik spielte, sonst änderte sich nichts.
Wenn dann in der Nacht die Lampions und die großen Bogenlam¬
pen erloschen, gingen auch sie. Den Gaslampen nach, die immer
spärlicher wurden und matt und müde nach dem Dunkel griffen.
Blieben ein-, zweimal stehen, starrten ins tote Licht, sahen sich an,
versonnen und traurig. Gingen dann weiter und verschwanden ir¬

gendwo in der Dunkelheit.

Einmal gab es einen Fackelzug. Junge Burschen und Mädchen
marschierten mit den flammenden Blumen in der Hand. Die Luft
war erfüllt mit Musik und Jubel. Im Gedränge zwischen den lar
menden Menschen standen die Gelsen schlugen mit den Armen
um sich vor Entzücken und fanden dann wieder still, wie erstarrt
durch all die Herrlichkeit. Gingen dann später als letzte durch leere
Straßen, verzaubert und durchtränkt mit nie geahnter Seligkeit.
Kauerten irgendwo in einem Tor aneinandergepreßt, sprachen
sinnlose Worte, die bedeuteten Glück.

Dies ereignete sich im Frühjahr. Im Herbst wurde der Leib der
Frau schwer und groß. Ich sah sie in einem Tor in einer engen Vor¬
stadtstraße sitzen, noch zerlumpter, noch farbloser als sonst. Der
Mann stand vor ihr. Sie hielten sich jetzt nicht mehr an der Hand,
vielmehr hob der Mann seinen Arm und ließ ihn auf ihre Schulter
fallen. Schlagen konnte man das nicht gut nennen, denn er ver¬
wandte keine Kraft dazu nur durch die Schwere seiner Knochen
sauste ihr sein Arm immer wieder so stark auf Schulter und Kopf,
daß sie im Sitzen taumelte. Ihr Gesicht aber blieb völlig teilnahms¬
los, als spürte sie das ganze nicht. Von Zeit zu Zeit wiederholte
sie mechanisch die Worte: „Mußt arbeiten, hast ein Kind“ — da
geriet er jedesmal außer sich vor Wut und von neuem gingen die
Schläge los. Manchmal trafen sie nicht, sie dachte sich, seine Faust
fuhr an ihr vorbei an die Wand. Ihn machte der Schmerz nicht
wilder, sie richtete sich gleichgültig auf. „Mußt arbeiten, hast ein
Kind.“ Jetzt weinte er vor Wut. Endlich wurde er müde, setzte sich
neben sie, die dumpf zusammengekauert in sich hereinbrütete.
Verzweifelt sah er sie an, sie wurde ihm fremd, er wurde so einsam.
Traurig saß er neben ihr mit verschränkten Händen, schweigend,
hoffnungslos. Nach einiger Zeit begann sie wieder, wie ein herun¬
tergeleiertes Gebet: „Mußt arbeiten, hast ein Kind.“ Wieder sprang
er auf, schlug sie ungeschickt und ohne Hast wie auf Befehl und
schimpfte mit Worten, die ich nicht verstand.

Dann entschwanden sie mir. Ich suchte sie, niemand wußte von
ihnen. In ihren alten Quartieren tauchten sie nicht auf. Als ich sie
endlich wieder traf, war der Winter schon vorbei. Es war gegen
Abend, ich bog gerade aus einer kleinen Gasse in eine hellereuch¬

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