Literatur als Gespräch der Lebenden mit den Toten, zumindest
der Möglichkeit nach: Regina Hilber nützt die Instrumentation
der Chiffrierung und beschwört die Erinnerung an Dichterinnen
und Dichter, deren Tode enigmatisch bleiben. Gegenwärtig sind
aber auch die Gefallenen des Habsburgerreichs in den Karsthöh¬
len und die Nebenlager von Mauthausen.
Itzig Manger, dessen Hahn auf dem Dach nächtens die Sterne
vom Himmel nascht, dessen Goldener Pfau zum Kaiser nach
Wien fliegt, sich über das Unglück zu beschweren, ist ein Ver¬
bündeter. Aber auch Klara Blum, die das Elend der Judengasse
benennt.
„l...] vielleicht muss Geschichte einfach nur wachgeküsst werden, um
ein neuer Himmel werden zu können“, fragt sich die Autorin nahe
der Grenze zur Ukraine und sammelt Fragmente, die sich ergän¬
zen könnten zu einem Ganzen, ohne Ganzheit zu heucheln. Eine
Erinnerung an Percy Bysshe Shelleys Ideen zur Ästhetik?
Regina Hilber meidet nicht das Herbe, das Sperrige, das seiner¬
seits zum Dechiffrieren einlädt. Ihre Poesie, sagt sie, bereitet „ein
Bett aus Kiefernnadeln für die Lebenden“. In einem Gedicht ist
nicht beliebig Platz. Manches muss hineingeschmuggelt, muss
„komponiert“ werden, sei es als Sprachmanöver in Denglisch
oder als repetitiv eingesetzte „fünfzig Sterne pro Heimat“, die auf
die fünfzig Bundesstaaten der USA verweisen. Bei wiederholter
Lektüre kommen auch die blinden Passagiere zum Vorschein,
verschmelzen die fiktiven Serienfiguren aus Fargo mit den ersten
weißen Siedlern Nord Dakotas.
Möglich, dass sich in einem Schlusschoral alle, Vögel und Men¬
schen, vereinen. Die einzelnen Songs durchdringt derselbe Sound,
derselbe Rhythmus. In den neun zueinander korrespondierenden
Zyklen wird eine Melodie spürbar. Mich erinnert sie an die tap¬
fere Melodie, die Charlie Chaplin für Tre Kid komponiert hat.
Charles Ofaire, PEN
Freiheit für Assange versus
Freiheit für uns
Die Prozessführung gegen Assange und seine Inhaftierung stel¬
len eine Verhinderung seiner Berufsausübung dar. Das wird zu
wenig ins Licht gerückt. Gerade dies ist für die USA entschei¬
dend: Die Angst vor der weiteren publizistischen Tätigkeit von
Assange. Damit wird auch zugegeben, dass die von ihm betrie¬
bene Arbeit rechtens ist. Die „gutmeinenden“ Anwälte haben zu
sehr versucht, Assange von Vorwürfen reinzuwaschen, anstatt
ihn in seiner großen Bedeutung herauszustellen, die ihn für die
Mächtigen so gefährlich macht.Und für uns notwendig.
Falsch ist es, immer seine gesundheitliche Not zu betonen (die
evident ist), was darauf hinauslaufen könnte, dass er aus Mit¬
leid nicht ausgeliefert wird. Das ist der falsche Weg. Für ihn
und auch für uns. Sein Weg im legitimen Entlarvungsjournalis¬
Was rätselhaft verbleibt, gehört der See: In ihr tummeln sich die
Narrenschiffe und warten auch nach der Lektüre auf Seegang.
Regina Hilber: Super Songs Delight. Wien: Edition fabrik. transit
2022. 108 S. Hardcover. Euro 18,¬
mus muss unser Weg bleiben. Es darf kein Zweifel daran auf
kommen, dass seine Arbeits- und Enthiillungsmethoden richtig
waren und dass große Enthüller der Aufklärung wie Voltaire sie
bereits mit Erfolg und weltweiter Anerkennung benutzt haben.
Voltaire im Fall Calas, der ohne Voltaires gezielte Untergrabung
derVertuschungen durch Staat und Gerichte in Frankreich nie
zu einer Wahrheitsfindung und Rehabilitierung des Unschuldi¬
gen geführt hätte. Assange ist ein Aufklärer im besten Wortsinn,
ein Erbe der großen Philosophen des 18. Jahrhunderts.
zuerst erschienen in: Frankfurter Rundschau, 14.12. 2021