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— bei Haselbach
= an der Nord-West-Bahn

Wie Kramer die Ernte aufeine Zeile verknappt, auf das Eigentli¬
che reduziert und seinem literarischen Anspruch gemäß dennoch
alles sagt, bedurfte einst keiner zusätzlichen Erklärung, weil die
im Jahresverlauf immer gleichen Tätigkeiten — das Säen, Ern¬
ten, Diingen, Ackern, Eggen — in der vom Menschen geformten
Kulturlandschaft, von klein auf eingeübt, wie selbstverständlich
abliefen und allseits bekannt waren. Alles, was hier wuchs, ob
Hagebutte oder Greifvogel, hatte seinen Platz.

In gleichmäßig hörbarem Rhythmus fährt die Sense mit dem
bogenförmigen Aufsatz samt Leinwandbespann, dem „Wachler“,
knapp über dem Boden durch das Getreide, das sich in gleichmä¬
ßigen Bahnen hinlegt und als Mahd auf das weitere Geschehen,
das Aufbinden zu „MandlIn“ zuwartet.

Undurchdringliches Dickicht, dornbewehrtes Gehölz. Die
Frucht der Heckenrose, die Hagebutte wird gebrockt von Men¬
schenhand, eingekocht zu Marmelade, im Herbst getrocknet
zu Tee. Kinder kletzeln die Samen der „Hedscherl“ aus den ro¬
ten Schalen, sekkieren ihresgleichen mit den haarig juckenden
Nüsschen.

Der Schatten des Bussards gleitet lautlos und doch so bedrohlich,
an die Nahrungskette von Fressen und Gefressen-Werden gemah¬
nend, über die Felder. Der Gedanke an die eisernen Vögel eines
Bomber-Geschwaders, das sich demnächst seiner todbringenden
Last entledigt, schwingt zwischen den Zeilen mit.

In der zweiten Strophe spannt Kramer den Bogen vom Hü¬
gelland des Weinviertels nach Guildford, ohne den Namen der
Kleinstadt und jenes Landes auszusprechen, das ihn in größter Not
und Lebensgefahr aufgenommen und dann doch acht Monate als
enemy alien, als feindlichen Ausländer, hinter Stacheldraht gesperrt
hat. Dort, in der Verbannung, sind die Soemmer drückend schwül,
für bereits an Gemüt und Gedärm Leidende noch schwerer zu
ertragen. Die Erinnerung an den Michelsberg, die unerfüllba¬
re Sehnsucht nach der Heimat, die Ungewissheit im fremden
Land, welches er nicht freiwillig als Weltenbummler bereist, als
Aufenthaltsort gewählt hat, setzt Kramer zu. Und doch gibt ihm
das Bild vom Michelsberg Kraft und wehmütigen Trost, weil ihn
seine Sinne nicht trügen, er die Landschaft seiner Kindertage, ihn
für Momente vom Alltag loslösend, in sich trägt, „zum Weinen
klar“ vor Augen haben kann, Kraft, auch am nächsten Tag und
am übernächsten die Feder zu führen, um sich unbeirrt an immer
neuen Versen zu versuchen.

In der dritten Strophe beschwört Kramer das Ackerunkraut,
Getreide und Mohn, ja selbst die Sense — Meint er die Feder?
— die er nicht lange mehr wird führen können, ruft er an, ihm
beizustehen.

30 ZWISCHENWELT

Letztlich ging sein in der Abschlusszeile formulierter Wunsch,
„ein Grab zu finden zwischen Korn und Klee“, und der in dem
Gedicht „Bevor ich sterb, möcht ich nachhause gehn “ geäußer¬
te in Erfüllung. Als britischer Staatsbürger kehrte er im Herbst
1957 nach 18 Jahren im Exil in England zurück nach Österreich,
besuchte noch einmal das Dorf seiner Kindheit, das Vaterhaus,
sah von dort aus noch einmal „seine“ Landschaft: die Ebene der
Stockerauer Bucht, den Weinberg, den Steinberg und den Mi¬
chelsberg.

Der Zentralfriedhof in Wien wurde zu seiner letzten Ruhestätte.

Um den 50. Todestag des Dichters im April 2008 zu würdi¬
gen, organisierte der Aktionsradius Wien gemeinsam mit der
TKG eine „Stadtflucht“ in das Kramer-Land: Man hielt auf dem
Michelsberg inne, stieg nach einer Mahlzeit im Gasthaus nach

Niederhollabrunn ab, schritt durch die Ausstellung und lauschte
den Gedichten.

Den Sternen und den Versen nahe

Im Winter 20/21 haben die Musiker Molden, Resetarits, Soyka,
Wirth auf der Suche nach einem passenden Motiv fir die Hiille
ihrer jüngsten Platte „Schdean“ den Berg bestiegen. Dort oben
waren sie nicht nur dem im Titellied besungenen Himmelsk6rper,
ihrem Stern nahe, sondern auch Theodor Kramers Versen und
seinem Geburtsort Niederhollabrunn. Dramatisch zogen sich
graupelschwere Wolken zusammen, Branntwein, Zigarette und
Sturmlaterne wärmten die Gedanken der Männer im spärlichen
Schnee.
Ein schmaler Sonnenfleck gab Zuversicht.

Als lokales Ausflugsziel zieht der Michelsberg noch immer Besucher
an. Das Gasthaus unterhalb des Gipfels hat mehrere Besitzer- und
Betreiberwechsel überlebt und an Wochenenden von April bis
Oktober geöffnet.

In Niederhollabrunn werden Führungen auf den Spuren von
Theodor Kramer angeboten.

Harald Maria Höfinger — 0699 8141 2009

Anmerkungen:

Michelsberg — Michelberg

Wiener Pforte - Donaudurchbruch zwischen Bisamberg und Leopoldsberg
Thomas Ebendorfer — Pfarrer von Perchtoldsdorf, Rat von Kaiser Friedrich
IIL, Rektor der Universität Wien

Bake — festes Orientierungszeichen fiir die See- und Luftfahrt; Verkehrs¬
und Signalzeichen

Dipolantenne — Zweipolantenne , gestreckte Antenne aus zwei geraden
Metallstaben

Frucht — Getreide

Hedscherl — Hetscherl, Hagebutte, Scheinfrucht der Heckenrose

Dorn — Dornenstrauch

Umschlag — Wickel; in feuchte Tiicher hiillen (wickeln); fiebersenkende
Essigpatscherl

Rade — Kornrade; frither: geftirchtetes Ackerunkraut. Alle Pflanzenteile
sind sehr giftig.

Mahd - das Mähen, der Mähvorgang, das Schnittgut

Mandl — zum Trocknen aufgestellte Getreidegarben

Stadtflucht — Ausflug von der Stadt auf das Land

Platte - CD, Langspielplatte