Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und ar¬
beitete von 1987 bis 2021 als Redakteur für den SPIEGEL. 16 Jahre
lang war er stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Nach¬
richtenmagazins. Im Jahr 2002 veröffentlichte er den in 19 Sprachen
übersetzten Bestseller “»Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli
Jahn 1900-1944”. Am 20. September erscheint seine Biographie “Lillis
Tochter. Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit —
eine deutsch-jüdische Familiengeschichte”, Deutsche Verlags-Anstalt,
München.
Der vorliegende Text ist der Wortlaut eines Vortrages, den Martin Do¬
erry am 9. Mai 2023 bei der Abschlusstagung des Editionsprojektes
„Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das
nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ in der “Topographie
des Terrors” in Berlin gehalten hat. Eine Kurzfassung dieses Vortrags
erschien im Mai 2023 in der „Zeit“.
Konstantin Kaiser begrüfste die zahlreichen Interessierten, stellte die
Teilnehmer des Podiums vor und warf ein paar Fragen auf.
Verhält es sich mit dem vielberufenen Begriff der Moderne nicht
wie mit dem Begriff Heimat: Sollte man den Sinn von “Heimat”
verteidigen oder sollte man Heimat einfach denen überlassen, denen
der Unterschied zwischen „Racine (Wurzel)“ und „Rasse“ nicht mehr
bewusst werden will, und sich die Hände nicht schmutzig machen?
Oder soll man im Gegenteil eine ‘andre Heimat” und eine “andre
Moderne” erkunden? Und dies, obwohl das Thema ein liegengeblie¬
benes ist aus der Expressionismus-Debatte, die die deutsche Intelligenz
nach ihrer Niederlage in den 1930er Jahren im Exil führte!
Sollen wir den Begriff der Moderne und seinen Sancho Pansa, die
Modernisierung, denen überlassen, die ihn als einen feuchten Fetzen be¬
nützen, um wegzuwischen, was auf der Tafel der Geschichte geschrieben
Leander Kaiser
Das Waschmittel Modernität
stand? Oder gar jenen, die damit ihre Anpassung an das Bestehende,
wie immer es zugrunde geht, beflaggen und den immerwährenden
Neubeginn propagieren? Wie ein ewig verjüngter Dr. Faust?
Und hat das vielleicht mit der Freiheit der Kunst zu tun — ist diese
bloß eine andere Art von Bankgeheimnis, das uns tieferen Einblick
und Kritik verwehren soll? Oder muss sich Freiheit der Kunst konkret
im künstlerischen Werk erweisen und bewähren? Der Forderung
genügend: “Hier ist die Rose, hier tanze!“
Erstreckt sich zwischen Intuition und Deduktion notwendig ein
Reich des Irrationalen, in das dialektische Vernunft nicht vorzudringen
hat? Und sollen hier nur die „Authentischen“ und „Eigentlichen“ das
Sagen haben? Das steht heute mit dem Buch Leander Kaisers zur
Debatte und auf dem Spiel.
K.K.
Ein guter Teil des beim Lesen wohl spürbaren Unbehagens, das
ich partiell mit der „modernen Kunst“ habe, verdankt sich der
ideologischen Rolle, die sie speziell in Österreich und Deutschland
nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hat und auch heute noch
spielt. Ich muss diesen Punkt etwas breiter ausführen, weil er in
den abgedruckten Texten sonst wenig behandelt wird.
In diesen Ländern sei die Entwicklung der „Modernen Kunst“
durch den Nationalsozialismus unterbrochen und unterdrückt
worden. Man müsse nun einen neuen Anfang machen und die
internationale Entwicklung in den bildenden Künsten wieder
einholen, hinter der man zurückgeblieben sei (was allerdings in
Wirklichkeit in Österreich schon in den 20er und 30er Jahren der