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erhalten geblieben. Darunter auch Briefe der Keramikkünstlerin
Lucie Rie (1902 — 1995), die es von Wien ins rettende Londoner
Exil geschafft hatte. Alisa Stadler und Lucie Rie waren beide
verwandt mit der grofen und sehr angesehenen Familie Wolf in
Eisenstadt. Vermutlich kannten sie sich daher aus Kindertagen.
Dafür spricht auch, dass Lucie Rie ihre Briefe zwar an „Alisa
Stadler“ adressiert, sie im Brief aber mit „Lisa — sehr Liebes,“
anspricht. Erst in Israel hatte Alisa Stadler ihren Vornamen von
„Lisa“ auf „Alisa“ geändert. Am 29.2.88 schrieb Lucie Rie an
Alisa Stadler unter anderem:

Dass Du in der Stephanskirche lesen wirst, ist schon fabelhaft —
Du hast ganz recht, froh darueber zu sein — trotz Herrn Waldheim.
Traurig, dass Du mit ihm in derselben Stadt leben musst — ein
Disgrace.’

Im Nachlass Alisa Stadlers findet man neben Lebensdokumenten
und ihren Ubersetzungen auch Unerwartetes, wie beispielsweise
das Foto einer Weinbergschnecke. Im ersten Moment brachte es
mich zum Schmunzeln, da es für mich ein überraschender Fund im
Nachlass war und ich die Schnecke als Metapher für Alisa Stadlers
Übersetzertätigkeit verstand. Denn zu übersetzen ist ein langsamer,
langwieriger Prozess, bei dem man oft nur im Schneckentempo
vorankommt. Doch scheint mir diese Assoziation bei längerem
Nachdenken darüber zu weit hergeholt. Viel naheliegender ist es,
die Hausschnecke als Metapher für ihre Exilerfahrung zu verste¬
hen. Denn eine Weinbergschnecke trägt ihr Haus mit sich, und
damit alles, was sie besitzt und was sie ausmacht.

Alisa Stadler scheint trotz allem eine zuversichtlich vorausschau¬
ende Frau geblieben zu sein. Das sieht man an ihrem tatkräfti¬
gen Einsatz gegen Antisemitismus, an ihrem Engagement für
hebräische Literatur und nicht zuletzt auch an dem im Nachlass
erhalten gebliebenen „Certificate“ des „Jewish National Fund“, das
besagt, dass sie zehn Bäume im „Wald der Wiener Symphoniker“
gepflanzt hat. Wer Bäume pflanzt, denkt voraus und wünscht
kommenden Generationen eine bessere Zukunft.

Auch wer Literatur übersetzt, denkt voraus. Denn Sprache und
Literatur sind etwas Lebendiges und eine Übersetzung lässt sich
damit mit einer Pflanze vergleichen. Übersetzt man ein Gedicht,
macht man damit einen Ableger davon und gewinnt ein neues
Gedicht, das man in einer anderen Sprachumgebung auspflanzt.
Oder man könnte auch sagen, dass man dem Originalgedicht
durch die Übersetzung ein neues Leben in einer anderen Sprache
schenkt. Alisa Stadler lag hebräische Literatur ganz besonders am
Herzen, sie wollte durch ihre Arbeit andere dafür begeistern und
neugierig auf mehr machen. So schloss sie einen ihrer Vorträge
über hebräische Lyrik mit folgenden Worten:

Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Sie ein wenig in die hebräische
Lyrik einzuführen und es wäre mir eine besondere Genugtuung, wenn
ich dadurch Ihr Interesse an einer näheren Bekanntschaft mit diesem
ergiebigen Zweig der israelischen Literatur geweckt hätte.

Schalom!'®

Daher denke ich, dass es in ihrem Sinne wire, diesen Beitrag
mit von ihr aus dem Hebräischen übertragenen Gedichten zu
schließen, und damit auf die von ihr übersetzten AutorInnen
überzuleiten. Die drei Gedichte stammen von Rachel (1890
— 1931). Alisa Stadler selbst stellte sie einmal mit folgenden
Worten vor:

Nun zu einer Dichterin, die als junge Studentin aus Odessa ein¬
wanderte, um als Landarbeiterin in Degania, einem der ersten Kib¬
buzim zu arbeiten. [...] Zum besseren Verständnis möchte ich noch

hinzufügen, daß der Kibbuz Degania am Ufer des Kinnereth liegt.
Kinnereth, so nennen wir in Israel den See Genezareth und dieser See
steht im Mittelpunkt von Rachels dichterischem Schaffen. Viele ihrer
Gedichte wurden vertont und gehören noch heute zu den beliebtesten
Volksliedern in Israel.”

Gedichte von Rachel übersetzt von Alisa Stadler

Vielleicht

Doch vielleicht war es niemals so
Vielleicht stand ich niemals am Morgen im Garten
Zu jäten im Schweiß meines Angesichts?

Niemals in den Sommertagen, den glühenden, langen bei der Ernte
Hoch oben am Wagen mit Garben beladen
Sang ich ein jubelndes Lied?

Niemals taucht ich hinein in das ruhige, reine Blau
Des Kinereth — 0 du mein Kinereth

Warst du’s, oder war es ein Traum?

+

Verwandter nicht — und doch so nah,

Kein Fremder — und doch so entfernt,

Und ein verwirrtes Staunen ruft

Der zarte Druck hervor.

Weißt Du es noch? Die Wände schlossen sich,
Und in der fremden Menge

Verwoben sich die Blicke

Eine Brücke — ein Zeichen wars.

Tatst Du mir weh — so sei der Schmerz gesegnet.
Helle Fenster hat der Schmerz.

Entlang dem Wegrand führt mein Pfad,
Und ruhig ist mein Herz.

+

So zart sind deine Hände

Wie der Schoß der Heimaterde

So gut ist ihre Wärme

Die Vergessen und Beruhigung schenkt
Ihrer Zärtlichkeit sich hinzugeben

Und zu wissen:

Nichts fürcht ich hier.

Bin ich doch Frau — nur Frau!

Der Ranke gleich, die klimmt und klettert
Bis zum Wipfel

Doch ohne Halt — traurig und bleich
Sink ich zur Erde.'*

Anmerkungen

Die Jubiläumsausstellung „Die Erinnerung wohnt in allen Dingen. 30 Jahre
Österreichische Exilbibliothek“ ist von September 2023 bis Jänner 2024 im
Literaturhaus Wien zu sehen. Dabei werden 30 Objekte aus 30 Nachlässen

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