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Yuliia Dliukha, geboren 1992, bei Charkiw / Ukraine. Schrifistellerin, Journalistin und Kolumnistin. Als Kinderbuchautorin erzählt lliukha die Abenteuer des Katers Murko Mnyausk. Als Herausgeberin hat sie die Stimmen ukrainischer Autor:innen im Band “Story of Hope” vereint. Der Band erschien nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Iliukhas Prosa und Lyrik wurde in vielen Sprachen in Anthologien, Magazinen und Zeitungen publiziert und ausgezeichnet. 2022 war Kalman Segal Das Tal des grünen Weizens Das matte, dicke Glas, das in eine große Fensteröffnung eingefügt war, ließ nur ganz sparsam ein wenig graues Licht durchscheinen. Die Scheibe war geheimnisvoll von einem dichten Gitternetz durchwoben, deshalb war sie sicher und unzerbrechlich — ja, es war wirklich ein außergewöhnlich starkes Glas, das die Formen verwischte und auf Farben nicht groß reagierte. Ich denke, dass es von einem dummen und phantasielosen Menschen ausgedacht worden war; wenn es von mir abhinge, dann würde ich den unbekannten Erfinder mit genau diesen Scheiben beschenken, ich würde ihn zwingen, auf die Welt durch genau solche matte Fenster zu schauen, solche, die die Dämmerung heranholen und das Morgengrauen erst spät zulassen. Im Winter war das Fenster vereist, es hatte aber keine schönen Eisblumen, die der Frost hätte weben können, und auch keine Kristallblätter, die an fantastische Farne denken lassen könnten — auf diesem Fenster bildete sich einfach eine graue Schicht von Eis und Schnee. Sogar um zwölf Uhr Mittag waren wir in einem kühlen, traurigen Halblicht. Der Mangel an Farben und an Sonne legte sich auf die Seele, machte bedrückt. Die eisige Umgebung verscheuchte alle Gedanken, alle Gefühle — es gab keine Wünsche und keinen Widerstand, die Sehnsucht verstummte, die Ungeduld stumpfte ab. Ich war im Halbschlaf versunken, die vergehende Zeit und die verfließenden Stunden verbanden sich zu Tagen und Nächten - alles, was sich in Vergangenheit verwandelte, war eine Erleichterung, eine Befreiung. In der Dämmerung, als die Konturen aller uns umgebenden Gegenstände sich verwischten und dann ganz verschwanden, sprach ich mit meinem Freund. Er war großgewachsen und hatte breite Schultern, er war zwanzig Jahre älter als ich, vielleicht auch mehr, mit einem weißen, runden Gesicht und den grauen Augen eines großen Kindes. Seine Fäuste waren hart wie Stahl. In der Dämmerung redeten wir also. Warum gerade dann, wenn unsere Gesichter nicht zu sehen waren? Diese unseren täglichen Gespräche waren so gleich wie unsere Tage. Wir redeten immerzu vom Gleichen, eigentlich redete nur mein Freund; ich hingegen hörte zu, ich nahm seine Worte begierig auf, ich zehrte von ihrem farbigen und frischen Inhalt, ich nahm sie unabhängig vom Inhalt auf, allein aufgrund dessen, dass sie ein Gegenteil der Stille und des Schweigens waren, einfach, weil sie menschliches Reden waren. Nach einer gewissen Zeit wusste ich schon alles, was mein Freund sagte, auswendig. Trotzdem verlor ich nie das Interesse — ganz im Gegenteil, ich konnte manchmal sogar ein Detail finden, das erklärt werden musste und so bereicherte ich das Portrait, das mein Gegenüber in einfachen Bildern schuf. Iliukha Gast im Unabhängigen Literaturhaus Krems und danach bis Frühjahr 2023 “Writer in Residence” der Kulturvermittlung Steiermark in Graz. Im Frühjahr 2024 erscheint in der Edition Thanhäuser ein Band mit Lyrik der ukrainischen Autorin, die seit Juli 2023 mit ihrem zehnjährigen Sohn Ivan in Graz lebt. «Wenn du auf der Schwelle des Hauses stehst, dann siehst du das ganze Dorf, denn die Hütte ist auf dem Hügel gleich neben dem Wald, und das Dorf ist unten, beim Fluss. In diesem Tal wächst der Weizen am besten, du solltest diesen Weizen im Mai sehen — grün und dicht, und wie hoch. Und wenn der Wind weht, dann wogt das Feld.» Er sprach in seiner dörflichen Vorkarpaten-Mundart, die ich heute gar nicht wiedergeben kann, und ich sah dieses sich verändernde Grün, das vielleicht dem Grün von Espenblättern glich, die silbrig in der Sonne glänzten. So also rauschten die Weizenfelder und nahmen jede Woche immer neue Schattierungen an. Die Ähren leerten sich nie, die Farben der Weizenstängel wurden wärmer, das Korn blühte, und wenn ein leichter Wind wehte, kam über dem Feld ein feiner duftender Staub auf, leicht und wunderbar wie ein Traum. Wenn wir hungrig waren, öffnete mein Freund die Kammer, in der auf Regalen nebeneinander reihenweise tönerne Gefäße standen, voll mit Sauermilch, die Sahne brodelte in Tongefäßen, im Bottich rastete ein Teig, der nach Hefe und Kümmel duftete —all diese Details kannte ich auswendig, ich wusste, auf welchem Fenster die Pelargonie stand, und auf welchem die Myrte, und ich erinnerte mich, in welchem Jahr der Apfelbaum neben dem Brunnen zum ersten Mal geblüht hatte. Ich liebte die Landschaft meines Freundes. Wenn ich die Augen schloss, schien es mir, dass ich das Glucksen der kleinen reißenden Bäche hörte, die sich im Vorfrühling während der Schneeschmelze eigene schmale Flussbette in die Berghänge schnitten. Gerade im Vorfrühling wurde der Fluss, der durch das Dorf floss, groß und auf ihm schwammen Holztröge, Dachbalken, hölzerne Sparren von den Dorfbrücken, Wiegen und Heiligenbilder — das ganze armselige Inventar der Bewohner der Hussaufwärts gelegenen Zuflüsse. Die Bauern führten die Rinder auf die Anhöhen, zum Hof meines Freundes, und sie selbst kletterten auf ihre Hütten aus Stroh und warteten besorgt ab, bis der graue, undurchsichtige Fluss genug hatte von menschlichem Elend und wieder absank und in sein Bett zurückkehrte. Einmal brach im Dorf ein Feuer aus. Am Abend stand der Himmel in Flammen, rot brannte auch der Fluss, die Strohdächer, das Heu in den Schobern, das noch nicht gedroschene Korn — das Feuer floss von einer Hütte zur anderen, Flammen stoben den dunklen Nachthimmel hoch, die Schreie der Frauen schallten zum Himmel, die Kinder weinten. All das erzählte mein Freund. Wie schon erwähnt, wiederholten sich in diesen Geschichten immer die gleichen Motive und Gestalten. Ich verstand das: mein Gesprächspartner war ein einfacher SEPTEMBER 2023 57