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Mensch, wenig gebildet, er konnte kaum unterschreiben, kaum die Silben trennen. Trotzdem wartete ich mit bebendem Herzen auf dieses sein tägliches Kapitel von Bekenntnissen. Manchmal sprach er von seiner Frau, manchmal beschrieb er den Friedhof neben der Dorfkirche, manchmal pflückten wir auf der Wiese Kümmel oder wir töpferten Gefäße und Schüsseln aus Ion, die wir mit hübschen Blümchen schmückten, und manchmal zogen wir zum Fischen aus. Er war stolz auf seine großen, schönen Karpfen, so als ob niemand außer ihm diesen armseligen Fisch fangen könnte. Ich bemerkte oft, dass er auf sein Dorf und dessen Bewohner stolz war. An einem gewissen Punkt seiner Geschichte begann mein Herz schneller zu schlagen und ich segnete die Dämmerung, die mir das Gesicht verhüllte— das war dann, wenn mein Freund das Gebiet meiner eigenen intimen Gefühle betrat. Heute bereue ich, dass ich mich damals, als er sprach, so bedeckt hielt, obwohl ich weiß, dass das nichts geändert hätte, denn das Leben ging in eine ganz andere Richtung weiter, die Wirklichkeit strafte die Erzählungen meines Freundes der Lügen und von den damaligen Gesprächen und Sehnsüchten blieben nur diese paar niedergeschriebenen Seiten. «Eines Tages», sagte er verführerisch, sich mir zuneigend, mit einer Stimme, die vertraulich Hüsterte: «Eines Tages fährst du mit mir und heiratest meine Tochter. Sie ist ein schönes und gutes Mädchen, ein gutes Kind. Sie ist nicht groß, dir wird sie bis zu den Schultern reichen. Aber sie ist auch nicht zu klein oder zu dünn. Schlank. Genau so, wie eine schöne Frau aussehen sollte. Du wirst sie lieben lernen. Jeder, der sie sieht, muss sie lieben, so ist sie. Ich gebe sie dir, du heiratest sie und wir werden zusammen leben. Bei mir wirst du keinen Hunger leiden. Du wirst schen, es wird uns gut gehen.» Und schon wechselte er das Thema, erinnerte sich an die üppigen Mittagessen im Dorf, an die dicken Mehlsuppen, mit Knochen und Wurst gekocht, an die Abendessen mit duftenden Bratkartoffeln, die man mit der Schale aß, in frische Butter tunkte und mit Buttermilch abrundete. Und dann kehrte er wieder zur Tochter zurück. Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden, sie keimten in mir, sie weckten meine Neugier, dann machten sie mich unruhig und schließlich hatte ich — Sehnsucht. Er war der Vater des Mädchens, das ich einmal sehen würde, und vielleicht sogar heiraten. Ich wollte taktvoll sein, ich wollte nicht direkt fragen, was für Lippen seine schöne Tochter hatte, was für Brüste, Schenkel, Waden - all diese Einzelheiten, die zur Obsession werden, welche die Gedanken und Vorstellungen eines jungen Mannes ganz einnehmen, der so lange Zeit den Anblick und die Gesellschaft von Frauen entbehrte. Ich konnte ihn nur nach der Haarfarbe fragen, nach der Augenfarbe, wie die Haut ihres Gesichtes beschaffen ist. Aber er wusste, wie meine Vorstellung anzuregen war und wie er mich an sich binden konnte, wie der Durst angefacht wurde. Vielleicht machte er das mir zuliebe? Er spielte mit meinen Gefühlen und meinen Leidenschaften — er war der Regisseur meiner Gedanken. Aber ich dachte, dass er das im besten Glauben machte. Und das war wirklich so. «Ich weiß, was du wissen willsv, sagte er einmal. «Es ist nicht so lang her, dass ich selbst jung war, also werde ich dich nicht mit Ungewissheit quälen. Sie ist wirklich wunderschön, sie hat große Brüste, solche wie ein junges Mädchen haben sollte. Sie hat auch gut zu sitzen auf etwas, Gott sei Dank, und sie hat alles, was ein Mann zu seinem Glück braucht.» 58 _ZWISCHENWELT Es vergingen Tage und Wochen. Eines Tages bemerkte ich, dass ich nicht mehr im Stande war, an eine andere Frau zu denken, dass ich überhaupt nicht mehr an jemand anders denken konnte — ich lebte nur von der Liebe zur Tochter meines Freundes. Ich dachte an sie, an ihr Dorfam Fluss und an das grüne Tal, wo der Weizen so wunderbar wächst. Und dennoch fragte ich nie — das mag vielleicht seltsam klingen — nach ihrem Namen; vielleicht, weil sie für mich etwas anderes als ein gewöhnliches Mädchen war. Sie war das SYMBOL, welches ich mit den Begriffen Freiheit, Schönheit und mit vielen subtilen Gefühlen verband. Bei einem Symbol — was hat der Name da noch für Bedeutung? Langsam — denn selbst bemerkte ich diese allmählichen Veränderungen nicht — begann ich mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Ich verlor das Gefühl der Einsamkeit. Wir schmiedeten gemeinsam Pläne und Vorhaben, wir redeten sogar von Details, denn man kann sich das Leben ja gar nicht ohne diese zweitrangigen und einfachen Dinge vorstellen, die doch für das Herz so wichtig sind. «Wir werden einen Zaun um die Hütte aufstellen», sagte mein Freund, und ich schlug vor, diesen aus Grünpflanzen zu machen, aus edlen Himbeersträuchern und ich stellte mir die Frage, welche Blumen mein Mädchen, die Tochter meines Freundes, gern hatte. Und so gingen Monate ins Land, der Winter verging und das Fenster hatte kein Eis mehr, durch die Mauern und die Gitter erreichten uns Frühlingslüftchen, aber es geschah nie, dass mein Freund zu einem Besuch herausgerufen wurde. Warum erhielt er keine Pakete und Briefe? Er lachte gutmüdig, als ich ihn darauf ansprach. «Und wer wird sich um die Kühe kümmern, wenn sie hierher fahren? Glaub nicht, dass das so einfach und naheliegend ist. Sollen sie besser zu Hause sitzen und warten. Die Zeit läuft und vergeht, soll Gott es uns geben, dass wir wieder zusammenkommen.» Die Zeit läuft und vergeht. Er hatte recht, die Zeit ist wirklich vergangen, wenn auch nicht in diesem Tempo, das man sich hätte wünschen können, und eines Tages führte man mich aus der Zelle heraus - ich ging in die Freiheit. Ich verabschiedete mich von meinem Freund, es war mir peinlich, und es war ihm peinlich, dass wir uns nach so vielen gemeinsam verbrachten Tagen trennen mussten. Wir hatten Tränen in den Augen, ich fühlte das Zittern seiner Hände, als ich sie mit beiden Händen drückte. Ich liebte diesen Menschen und ich verdankte ihm viel. «In einem halben Jahr bin ich auch draußen», sagte er. «Vielleicht werde ich dich noch wiedersehen.» «Wir werden uns schneller sehen», versicherte ich ihm. «Ich besuche dich. Ich komme mit IHR....» Er schüttelte ungläubig den Kopf, er lächelte. Der Wärter stand in der Tür, ich musste schon auf den Korridor gehen, wo alle Insassen, die an jenem Tag in die Freiheit gingen, versammelt waren. So also verließ ich das Gefängnis und begab mich nach einigen Tagen in das Heimatdorf meines Freundes. Nach einer ganzen Nacht in einem leeren Drittklasseabteil stieg ich auf dem kleinen Bahnhof einer Bezirksstadt aus. Von da hatte ich noch zwei Meilen zu Fuß. Ich ging auf der löchrigen Landstraße, frisch, aufgeregt vom Raum um mich herum, vom Duft des Waldes, der Freiheit. Ich kam durch zwei ärmliche Dörfer. Auf den schmalen Feldern war weißer Hafer und goldige Gerste, einige armselige Kartoffelfelder