Was weint ihr, Augen ? — Herz, wozu die Klagen,
den Leib verzehrend und der Seele Macht,
die, willig härterem Befehl erwacht,
vom Schicksalswind sich höher liesse tragen — ?
Wodurch Verlust ?— Warum Not und Verzagen ?
Sehnsucht und Darben ? - Da die Fülle lacht
nicht minder aus der schmerzenstiefen Nacht,
wie aus den glücks-durchflutet hellen Tagen !
Woher ergiesst sich denn der Leidenssegen
plötzlich wie Jubel in die Herzensschale,
wenn nicht aus ruhend-übervoller Hand ?
Wohin entsteigt der Bogen, dank-gespannt,
farbprächtig, wie in Sonnenschein der Regen,
wenn in den Quell nicht, reich zum andern Male ?
Melitta Urbancic, geb. Grünbaum (1902 Wien— 1984, Reykjavik).
Promovierte Philosophin, Sprachwissenschaftlerin, Schauspielerin,
Bildhauerin, Imkerin und — lebenslang — Dichterin. Eltern: Ilma,
geb. Mauthner, und Dr. Alfred Grünbaum, Rechtsanwalt. Studium:
Universitäten Wien und Heidelberg, Professoren Carl Jaspers, Max
von Waldberg, Friedrich Gundolf! Schauspiel bei Max Reinhardt.
Theaterengagements: Baden-Baden, Konstanz, Koblenz. Künstler¬
name Makarska. Ehe mit Dr. Victor Urbancic. Vier Kinder. Wegen
jüdischer Herkunft Auswanderung 1933 von Mainz nach Wien,
1938 von Graz nach Reykjavik. Zuletzt erschien: Melitta Urbancie:
Unter Sternen. Gedichtauswahl. Hg. von Agneta Hauber und Astrid
Nischkauer. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2022.
Mein Wort ein kurzes Messer und überall: Luft
(nach Christine Haidegger)
Ll
Aber was sind schon
Worte Spuren
die kein Bliitenblatt
kein Herbst bedeckt
Lieber deine Hand legen
auf ein Stiick Papier
und meine von der
anderen Seite dagegen
Spiiren wie wenig uns trennt
obwohl wir einander sagen
wer wir sind und waren
Das Land hält sich nicht auf
Wir halten uns auf
Über uns
lichten sich die Bäume hin
und so lichten wir uns auch
kommen nirgendwo heraus
sondern gehören hierher Ein
Mehr sind wir
gleich über einem nicht mehr
Wenig mehr und fast schon nichts
Im Halbschlaf huscht die Sterblichkeit vorbei.
Dann bleibt sie doch stehen
und presst ihre Nase an das kalte Glas der Wünsche
und Ängste.
Der Gesang zweier Amseln fährt eifrig
über die dünne Wirklichkeit dieses Moments
wie ein Bügeleisen über ein längst nicht mehr
strahlend weißes Hemd
mit umgeschlagenem Kragen.
Eben noch Ertastetes
fest im Griff der Vergangenheit
deren Knöchel weiß hervortreten bei genauer
Verachtung.
Ohne den Atem anhalten zu können hältst du inne.
Außer dir gibt es nichts
und alles ist außer dir. Außerhalb. Ausschließlich.
Im Halbschlaf kein Verlassen der Fährte
versuchst dich als Tier
als wäre dir ein Labyrinth bereitet. Ein Ausgang ein
Test.
Warum hältst du an diesem oder jenem Gedanken fest?
Nicht vergessen wo du als letztes warst wo du
als nächstes sein willst. Dabei vergessen dass du dort
nicht bist.
Timo Brandt wurde 1992 in Düsseldorf geboren. Studium am
Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst
in Wien, Abschluss BA. War Literatur-Rezensent beim signaturen¬
magazin.de und für die Zeitschriften Zwischenwelt, Kolik, Literatur
und Kritik, jetzt vor allem für den Instagram-Channel @lyristix.
Fünf eigenständige Gedichtbände, zuletzt „Das Gegenteil von Show¬
down“, Limbus Verlag 2020. Instagram: @brandt_timo, Website:
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com