Viele Gedichte sind aber auch sehr ernst, so
wird beispielsweise über Hunger, Armut und
erschreckende Erziehungsmethoden in der
Kindheit der heute Dichtenden geschrieben.
So auch im Gedicht „Erziehung“ von Ma Jin¬
shan, das auch schon in der letzten Zwischen¬
welt-Ausgabe (1-2/2023) unter „Neue Texte“
erschienen ist. Darin erzählt er, wie die Schule
ihn als schlimmes Volksschulkind zu einer Hin¬
richtung geschleppt habe, „damit ich sch/ wie
ein verbrecher/ erschossen wird“.
Im Gedicht „Problem“ von Li Fei wiederum
wird der Freude über die Geburt eines weibli¬
chen Kalbes die Enttäuschung über die Geburt
eines Mädchens gegenübergestellt, von dem es
heißt, „das Unglückszeug ohne/ Stengel ohne
Henkel gehört weggeworfen“.
Ein auf den ersten Blick unscheinbares Ge¬
dicht von großer Tragweite ist das Gedicht von
Meihua Yi über die Amerikanische Wahl 2016.
Denn über die Möglichkeit einer demokrati¬
schen Wahl in einem Einparteiensystem wie
China nachzudenken, ist mehr als mutig:
Meihua Yi
Wahl der Chinesen
Bei der großen Wahl in den USA
taten viele Chinesen
ich war einer von ihnen
als hätten sie auch das Recht zu wählen
wägten sorgfältig ab
ob sie denn Trump
oder Hillary unterstützten
als der Tag herankam
vergaben sie feierlich
eine Stimme in ihrem Herzen.
2016
Auch wenn China für viele Menschen in Eu¬
ropa weit weg sein mag, ist umgekehrt Europa
in den chinesischen Gedichten der Anthologie
durchaus immer wieder präsent. Sei das nun in
Form der Vermittlerfigur Martin Winters, der
schon auch einmal in einem Gedicht auftauchen
kann. Oder durch die Beschreibung eines in
Paris beobachteten möchte-gern-Bücherdiebs.
Oder durch dieses Gedicht, das eine direkte
Reaktion auf den Ukrainekrieg ist, und Worte
findet für die tiefe Erschütterung und Beun¬
ruhigung, die Krieg in der menschlichen Seele
auslösen kann:
Mo Gao
Notiz zum Ukrainekrieg
Als der Krieg ausbrach
sah ich in den Nachrichten
so viele Ukrainer
aus ihrer Heimat flüchten.
Der Titel des Buches des französischen Schrift¬
stellers und Kulturphilosophen Marc Sagnol,
der vor allem durch seine Arbeiten über Walter
Benjamin, Franz Kafka, Bruno Schulz und Paul
Celan bekannt ist, klingt beinahe märchenhaft:
„Galizien und Lodomerien“. Er ruft in unser
Gedächtnis zuerst Assoziationen an mythische
Königtümer wie Shakespeares „Böhmen am
Meer“ oder Rezzoris „Maghrebinien“. Doch
der Begriff „Galizien und Lodomerien“ ist
kein utopisches Konstrukt, so hieß in der Tat
ein reales Land — das östlichste Kronland des
Habsburgerreiches, das im Jahre 1772, nach der
ersten Teilung Polens, der k. u. k.-Monarchie
einverleibt wurde. Etymologisch ist der erste
Teil dieser verbalen Kombination — Galizien
— vom Namen des mittelalterlichen ostslawi¬
schen Fürstentums Halicz (Halycz, Galicz) ab¬
geleitet, dessen Vorherrscher Danilo (Danylo)
1253 von dem Papst Innozenz IV. als König
gekrönt wurde. Der zweite Teil dieser merk¬
würdigen Wortverbindung- Lodomerien - ist
eine österreichische Umformung des Namens
„Wolodymeria“, wie die Region Wolhynien in
bürokratischen Akten des Wiener kaiserlichen
Hofs hieß. Er entstand durch die Kürzung der
ersten Silbe des historischen Namens.
Wollte man die Gattungsart des Buches de¬
finieren, so würde man es am ehesten zwischen
Reisebildern und Erinnerungen platzieren. Die
Zahl solcher Reisebeschreibungen ist inzwischen
beinahe unübersichtlich geworden und wird
durch das historische, kulturelle oder touristi¬
sche Interesse an Osteuropa immer größer. Viel
Beachtung fanden seinerzeit z. B. die imaginä¬
ren Reisebeschreibungen Galiziens von Martin
Pollack! oder die Reisebilder Galiziens und der
Bukowina von Verena Dohrn’, welche den nihe¬
ren Einblick in diese entferntesten Regionen der
ehemaligen k. u. k.-Monarchie den westlichen
Lesern gewährten, die jahrzehntelang von ihnen
durch den „Eisernen Vorhang“ getrennt waren.
Das Buch Marc Sagnols unterscheidet sich
von anderen Reisebeschreibungen vor allem
durch seine besondere Zielsetzung. Es wird im
Untertitel als „eine Spurensuche“ bezeichnet und
überträgt damit den Akzent von der gelegent¬
lichen Erkundung des erwähnten Landstrichs
auf seine tiefere Erforschung mit Hinblick auf
die jüdische Geschichte kleinerer und größerer
Sie hatten eines gemeinsam:
Sie nahmen nicht viel Gepäck mit
(Es ging einfach nicht).
Jeder Mensch einen Rucksack,
so wie wir auch oft auf der Reise.
Ich sag zu Mu Jiang,
wir müssen unbedingt
solche Rucksäcke gut aufbewahren
und bereit haben.
8.3.2022
Das fünfbändige Anthologie-Projekt von
Martin Winter bei der edition fabrik.transit,
das uns Neue Poesie aus China näher bringt,
ist horizonterweiternd und ermöglicht es, sehr
vieles und viele zu entdecken. Die ersten bei¬
den Bände, „BRETT VOLLER NAGEL fiji
EIT-EIANÄR NPC-Anthologie Art
Band 1: A-J.“ und „HUNDEFUTTER HR
NPC-Anthologie #rtHt2ciysi Band 2. K-M“
liegen nun vor.
Astrid Nischkauer
HUNDEFUTTER #8. NPC-Anthologie it
TH ZH. Band 2. K—M. Gedichte Chinesisch/
Deutsch. Übersetzt von Martin Winter. Herausge¬
geben von Juliane Adler und Martin Winter. Wien:
edition fabrik. transit 2023. 510 S. Euro 26,¬
galizischer Orte, in denen einstmals jiidisches
Leben blühte, das später, infolge der Katastro¬
phe der Shoah, unwiederbringlich ausgelöscht
wurde.
Bereits am Anfang seines Buches will der
Autor seine persönlichen Reiseeindrücke und
Erinnerungen an diese osteuropäische Land¬
schaft in einem breiteren Rahmen sehen, der
„mehr ist als ein individuelles Gedächtnis, eher
das Gedächtnis einer Generation, vielleicht sogar
jenes potentielle Gedächtnis, von dem Perec
spricht“ (S. 7). Er veranschaulicht dann diese
‘These mit Georges Perecs Zitat: „Fern von uns
in Raum und Zeit gehört dieser Ort für uns zu
einem potentiellen Gedächtnis, zu einer mög¬
lichen Autobiographie“.
Das autobiographische Element spielt in die¬
sem Falle für Marc Sagnol eine Schlüsselrolle,
da seine Reisen nach Galizien (es handelt sich
um mehrere Besuche im Laufe vieler Jahre) vor
allem einen familiären Hintergrund hatten: sein
Urgroßvater Abraham Schreiber stammt aus
Kossow (heute Kossiw), einem kleinen Kurbad
am Vorfuße der Karpaten, das noch vor dem
Beginn des Zweiten Krieges über 80% Juden