OCR Output

Hauptstadt Manitobas, wo sich die Spedition
befand, für die er sich beworben hatte. Bevor wir
eine eigene Wohnung fanden, konnten wir für
ein paar Wochen bei einem Bekannten am Land
in der Nähe einer Hutterer-Siedlung wohnen,
deren Vorfahren ursprünglich aus Tirol stamm¬
ten, einem Bauern aus dem Waldviertel, der sich
in Kanada eine Farm gekauft hatte. Bei einem
Spaziergang erzählte er uns von der fruchtbaren
Schwarzerde in dieser zentralen Prairieprovinz
Kanadas. Ich kann mich jetzt noch an seinen
Gesichtsausdruck purer Begeisterung erinnern:
„Da braucht man Pflugscharen nicht wechseln!“
Als Kind hatte ich einmal meinem Vater beim
Wechseln zugeschaut, ich wusste, dass Pflugscha¬
ren teuer sind (der beste Stahl ist der Elverum
Stahl aus Schweden). Mit meinen Eltern und
Brüdern hatte ich Steine von unseren Feldern
geklaubt, damit die Maschinen geschont werden
und die Saat besser aufgehen kann. An der Uni
in Winnipeg lernte ich eine Studentin kennen,
die sich für amnesty international engagierte.
Wir knüpften Freundschaft und sie erzählte mir
von ihren jüdischen Vorfahren aus der Ukrai¬
ne, die aus der Nähe von Brody stammten. Sie
wollte sich in naher Zukunft auf Spurensuche
in die Ukraine begeben. Wir schrieben damals
einen Satz nieder, unser Credo, spontan aus
der Luft gegriffen: „As long as we exist there is
hope.“ Woher der Satz in meinem Kopf kam,
weiß ich nicht, Aime&e nannte ihn: Geistesblitz.

Wir vereinbarten, dass wir uns in der Ukraine

treffen, wenn sie nach Europa kommt.

1944 wurde in Winnipeg das Ukrainian Cul¬
tural and Educational Centre gegründet. Drei
Jahre später veranstaltete das Zentrum einen
Memoirenwettbewerb mit dem Ziel, Material
über den Zweiten Weltkrieg zu sammeln. Vie¬
le eingereichte Texte aber drehten sich um die
Hungersnot, sodass das Zentrum schließlich eine
große Sammlung aufbaute. 1948 verteilten ukra¬
inische Displaced Persons in Hannover, Deutsch¬
land, Flugblätter zum 15. Jahrestag des „Massen¬
mords“, wie sie den Holodomor nannten. 1953
gründete der ehemalige GULAG-Gefangene
Semen Pidhainy die Ukrainian Association of
Victims of Russian Communist Terror in Kanada.
In den 70er Jahren war die ukrainische Diaspo¬
ra in Europa, Kanada und den USA schließlich
groß genug, dass sie eigene HistorikerInnen und
Zeitschriften hervorbringen konnte. Das Harvard
Ukrainian Research Institute und das Canadian
Institute for Ukrainian Studies an der Universität
von Alberta in Edmonton wurden gegründet.
In den 80ern begann das Ukrainian Famine Re¬
search Committee, Interviews mit Überlebenden
der Hungersnot und mit Augenzeugen aus ganz
Europa und Nordamerika auf Video aufzuzeich¬
nen. Der Ukrainian Studies Fund in New York

90 ZWISCHENWELT

beauftragte den jungen Historiker James Mace
mit einem großen Forschungsprojekt am Harvard
Ukrainian Institute, Mace hatte über die Ukraine
promoviert.’* Auf Basis des kanadischen Intervie¬
wprojekts entstand ein großer Dokumentarfilm,
„Harvest of Despair“, 1985 lief er im Fernsehen,
zuvor hatte er Preise bei Filmfestivals gewonnen.
Im selben Jahr publizierte der Historiker Robert
Conquest das in Zusammenarbeit mit dem Har¬
vard Ukrainian Research Institute verfasste Buch
„Harvest of Sorrow“ (dt. Ernte des Todes).

Aber es war die Zeit des Kalten Krieges. Wer
zum Hungermord forschte, galt als „kalter Krie¬
ger“. Die Emigranten wurden als „notorisch
voreingenommen“, ihre Berichte als „zweifel¬
hafte Gräuelmärchen“ abgetan.”

In der Sowjetunion der 80er begegnete die Au¬
torin Swetlana Alexijewitsch einer russischen
Veteranin, die im Krieg neben einer Ukrainerin
gedient hatte. Die gesamte Familie der Ukra¬
inerin war im Holodomor verhungert. „Mein
Vater war Geschichtslehrer, und er hat mir ge¬
sagt: ‚Eines Tages wird Genosse Stalin für seine
«28

Verbrechen bestraft werden.
Gorbatschow stand an der Spitze der UdSSR.

1987: Reaktion der Sowjetunion. Publikation
des Buches:

»Fraud, Famine, and Fascism: The Ukrainian
Genocide Myth from Hitler to Harvard“.

Als Autor nannte man einen Douglas Tottle,
angeblich ein kanadischer Gewerkschaftsaktivist.

Die Hungersnot, so Totile, sei eine Erfindung
ukrainischer Faschisten und antisowjetischer
Gruppen im Westen. Es habe schlechtes Wetter
und Chaos gegeben, aber die ukrainische Hun¬
gersnot sei ein „Mythos“, die Berichte darüber
„Nazipropaganda“. Die ukrainischen Emigran¬
ten seien „Nazis“; Harvard University sei „seit
langem ein Zentrum von antikommunistischer
Forschung, Studien und Programmen“ und habe
Verbindungen zur CIA.”

In der freien Ukraine öffneten sich die Archi¬
ve, Zeitzeuglnnen wurden interviewt, Augen¬
zeugen befragt, das kollektive Gedächtnis bekam
Orte und Worte. „Ich dürfe nicht sterben, und
wenn ich groß sei, müsse ich den Menschen
erzählen, wie wir und die Ukraine qualvoll star¬
ben“, erinnerte sich Wolodymyr Tschepur, der
fünf Jahre alt war, als seine Mama ihm erklärte,
sie und Vater würden alles, was sie zu essen ha¬
ben, ihm geben.” 2008 sprach der ukrainische
Präsident Viktor Juschtschenko bei der Gedenk¬
zeremonie zum 75. Jahrestag des Holodomor:
„Wir appellieren an jedermann, vor allem an
die Russische Föderation, vor ihren Brüdern
aufrichtig und rein zu sein und die Verbrechen

des Stalinismus und der totalitären Sowjetunion
zu verurteilen. [...] Wir weisen die dreiste Lüge
zurück, wir würden ein bestimmtes Volk für
unsere Tragödie verantwortlich machen. Das ist
nicht wahr. Es gibt nur einen Verbrecher: das im¬

perialistische kommunistische Sowjetregime.“?'

2017 veröffentlichte die 1964 geborene His¬
torikerin und Journalistin Anne Applebaum
„Red Famine. Stalin‘s War on Ukraine“, das zwei
Jahre später auf Deutsch unter „Roter Hunger“
erschien. Darin schreibt sie: „[D]er Anteil des
der Öffentlichkeit freigegebenen Materials ist
in der Ukraine einer der höchsten in Europa.“

Das Buch spiegelt ein Vierteljahrhundert
Forschung wider.

Applebaum war gerade dabei, das Buch ab¬
zuschließen, als 2014 Russland zum ersten Mal
in der Ukraine einmarschierte.

Der Abschluss des Buches verzögerte sich, ihre
ukrainischen KollegInnen waren „stark ins aktu¬
elle Geschehen involviert.“ Zu den Lügenge¬
schichten, die mit dem Einmarsch der russischen
Armee (damals noch „grüne Männchen“ ohne
Abzeichen) global verbreitet wurden, gehörten:
ukrainische Nationalisten, die ein Baby kreuzig¬
ten, gefälschte Fotos. Applebaum: „Obwohl viel
raffinierter als alles, was Stalin sich in der Zeit vor
den elektronischen Medien ausdachte, war der
Geist dieser Desinformationskampagne ziemlich
der gleiche.“* Im Epilog ordnet sie Tottles Buch
wissenschaftlich ein: „ist vor allem wichtig als
Vorbote dessen, was fast drei Jahrzehnte später
kam. [...] dasselbe Spektrum von Verbindun¬
gen — Ukraine, Faschismus, CIA — [wurde] von
der russischen Kampagne gegen die ukrainische
Unabhängigkeit und gegen die Antikorrupti¬
onsbewegung von 2014 wiederaufgenommen“.
Applebaum definierte, was Nationalismus auf
russisch ist: jede Diskussion über die sowjetische
Unterdrückung in der Ukraine oder über die
ukrainische Unabhängigkeit”.

In einer kritischen Rezension zu Applebaums
Buch habe ich gelesen: Sie ist Amerikanerin.
Sie hat einen Polen geheiratet. Der Pole ist

konservativ.

In der Russischen Föderation von Wladimir Pu¬
tin wird der Holodomor noch heute geleugnet.
August 2023: Die Russische Föderation setzt
ab September in den besetzten Gebieten der
Ukraine ein Schulbuch ein, das die Ukraine als
„ultra-terroristischen Staat“ bezeichnet*.

Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin
hatte Holodomor und Holocaust vor Augen,
als er sich für eine Konvention der Vereinten
Nationen zur Verhütung und Bestrafung von
Völkermord einsetzte. Auf seine ursprüngliche