Definition stützte sich eine Resolution der
UN-Generalversammlung vom Dezember
1946: „Verbrechen gemäß Völkerrecht, ... ganz
gleich ob er aus religiösen, rassischen, politi¬
schen oder irgendwelchen anderen Gründen
begangen wurde“.
Die Sowjetunion blockierte: „politische Grup¬
pen seien in einer wissenschaftlichen Definition
von Völkermord völlig unangebracht, ihre Ein¬
beziehung in die Konvention würde [...] den
Kampf gegen den Genozid behindern“.
1953 sagte Lemkin in seinem Vortrag „Soviet
Genocide in the Ukraine“:
Der Massenmord an Menschen und an Nationen,
der das Vorrücken der Sowjetunion nach Europa
charakterisierte, ist kein neues Merkmal ihrer Po¬
litik des Expansionismus. ... Er ist vielmehr ein
dauerhaftes Kennzeichen auch der Innenpolitik des
Kreml — für die die heutigen Herrscher genügend
Präzedenzfalle im Handeln des zaristischen Russland
fanden. Tatsächlich ist er ein nicht wegzudenkender
Bestandteil im Prozess des „Zusammenschlusses“, von
dem die Sowjetführer sehnlichst hoffen, dass er den
„Sowjetmenschen‘, das „Sowjetvolk“ hervorbringt,
und um dieses Ziel, die vereinte Nation, zu errei¬
chen, werden die Führer des Kreml bereitwillig die
Nationen und Kulturen zerstören, die Osteuropa
lange bevölkert haben.”
Am 3. April 2022 publizierte die staatliche Rus¬
sische Agentur für internationale Information,
RIA Nowosti den Aufsatz „Was Russland mit
der Ukraine tun sollte“ des russischen Polito¬
logen Timofej Sergejzew. Eine „Anleitung zum
Völkermord“, sagt der Historiker und Holo¬
caustforscher Timothy Snyder. Darin heißt es:
„Russland hat im 20. Jahrhundert alles getan,
um den Westen zu retten. Es verwirklichte das
wichtigste westliche Projekt, die Alternative zum
Kapitalismus, die die Nationalstaaten besiegte
— das sozialistische, rote Projekt.“ ?®
Am 28. November 2023 gedenkt die Ukraine
dem Holodomor vor 90 Jahren. Zahlreiche Län¬
der haben inzwischen das millionenfache Töten
durch Hunger als Genozid eingestuft.
Österreich nicht.
2008 war ich aus Kanada zurückgekommen,
2010 besuchte ich meine Bekannte in Charkiw.
Obwohl sie mir beim Spazierengehen durch
Charkiw vom Holodomor erzählte, bin ich nicht
auf die Idee gekommen, mehr darüber zu lesen,
als in Reiseführern in einem „Spezialbeitrag“ zu
finden ist. Die Geschichte „der düsteren Zeit“
der Sowjetunion verband ich ausschließlich mit
Stalin, der war tot. Dass Stalin auf Vorgänger
aufbaute und Nachfolger hatte und weitere ha¬
ben könnte, kam mir nicht in den Sinn, obwohl
Stalin in der Russischen Föderation seit der Prä¬
sidentschaft eines ehemaligen KGB-Offiziers
stets an „Beliebtheit“ gewann. Warum? Stellte
man ihn sich als Toten vor, der die anderen
massakriert und einen selber verschont? Das
dachte ich mir damals nicht. Ich hielt den von
den Toten auferstandenen Stalinkult für eine
postsowjetische Kuriosität. Im Grunde behan¬
delte ich wissenschaftliche Erkenntnisse zum
Sowjetkommunismus und die gesamte Arbeit
der demokratischen Bürgerrechtsbewegungen
der Länder, die einst hinter dem Eisernen Vor¬
hang waren, wie rechtsgerichtete WählerInnen
Erkenntnisse über die Geschichte, Ursachen und
Folgen des Faschismus: Sie nehmen sie nicht
wahr oder tun sie von vornherein als „parteiisch“
ab, sie wollen einen „Schlussstrich“ ziehen, sie se¬
hen die Beschäftigung damit als Zeitvergeudung.
So ein „Schlussstrich“ passierte mir in Öster¬
reich, im Herzen Mitteleuropas, von dem meine
norwegische Gastmutter 2011 sagte: „Österreich
ist so faszinierend. Ihr könnt in einer Tagesreise
mit dem Zug in allen Nachbarländern sein! Wir
können nur nach Schweden fahren, nach Finn¬
land ist es schon weit, für alle anderen Länder
brauchen wir das Flugzeug!“
Wahrscheinlich treffen drei Gründe für das
sonderbare Desinteresse zu: 1. Die Geschichte
der Menschen, die hinter dem Eisernen Vorhang
waren, schien mir weniger wichtig als „unsere“
Geschichte vor dem Eisernen Vorhang. 2. Ich
hätte mein Leben verwettet, dass kommunis¬
tische Parteien im Westen für die Demokratie
einstehen, unter allen Umständen. 3. Ich hatte
die russische Propaganda übernommen, denn
ich betrachtete Länder, deren Freiheit Putin als
die „größte geopolitische Katastrophe des 20.
Jahrhunderts“ bezeichnete, besonders skeptisch,
sie standen unter diffusem Generalverdacht,
waren nie richtig in Ordnung, waren „sehr
kompliziert.“ Da interessierte ich mich lieber
für Lateinamerika und dortige revolutionäre Be¬
wegungen und reiste, obwohl ich kein Spanisch
sprach, mit zwei Freundinnen nach Venezuela,
um hinterher eine Proseminararbeit über Chä¬
vez Reformen zu beginnen, die ob der konträren
Literatur zwar anwuchs, aber nicht weiterkam.
Schließlich rettete die Klugheit meines kolum¬
bianischen Professors die Studienpunkte: Er
empfahl mir, einfach die Reise zu beschreiben,
benotete sie gut, und zog wahrscheinlich seine
eigenen Schlüsse.
Es musste der 24. Februar 2022 kommen, bis
ich mehr wissen wollte und das Standardwerk
zum Holodomor kaufte.
Alle Angaben zu den kanadischen Forschungen
zum Holodomor sind diesem Buch entnommen.
Ich habe es 2023 gelesen, stumm vor Entsetzen.
Ich lag falsch, als ich in ZW 1-2/2022 schrieb, Pu¬
tin habe mit dem Kommunismus nichts zu tun.
Schon Lenin wollte die absolute Macht, es war
er und nicht Stalin, der 1918 die Tschreswyt¬
schajaja Komissija gründete, die Tscheka, die
erste sowjetische Geheimpolizei, die später
GPU, OGPU, NKWD und dann KGB hieß:
Putins Schule. Bereits Lenin führte die zaristi¬
schen Getreideeintreibungen in der Ukraine
fort, und verschärfte die unter dem Zaren be¬
gonnene Zentralisierung. Bereits Lenin, nicht
erst Stalin, ließ in den Dörfern Geiseln nehmen
und Bauern an die Wand stellen, wenn die Ab¬
gabequoten nicht erfüllt wurden. Bereits 1919
fand die „Entkosakisierung“ statt, ein Massaker
an 12.000 Menschen, nachdem eine Troika aus
einem Kommissar der Roten Armee und zwei
Parteimitgliedern Todesurteile im Akkord ver¬
hängt hatten. Die erste Hungersnot, jene von
1920/1921, war neben Dürre und Missernten
bereits eine erste Folge der bolschewistischen
Wirtschaftspolitik, die auf der Überzeugung
beruhte, dass in naher Zukunft die „Klasse“
der Bauern aussterben werde (müssen), denn
Bauern als kleinste Landbesitzer galten als klein¬
bürgerliche Kapitalisten. Der Blick auf Bau¬
ern ähnelte frappierend dem Feudalismus und
Kolonialismus: Bauern als Wilde. So, wie sie
verachtet wurden, wurde auch alles Lebendige
der Natur verachtet.
Ein Überlebender des Holodomor erinnerte
sich an einen Bauern, der die Hungersnot von
1920/1921 ideologiefrei so beschrieb: „Die
Bolschewiki beraubten die Leute und nahmen
Pferde und Ochsen mit. Es gibt kein Brot. Die
Leute verhungern.“ „Sie zwingen uns auf die
Kolchose, damit wir auf ewig Sklaven sind“,
sagte ein Bauer vor dem Holodomor.“” Gleich¬
zeitig wusste die Sowjetregierung, dass die
Ukraine, ein Agrarland, verloren gehen würde,
revoltierten die Bauern erfolgreich. Viel später
beschrieb Gorbatschow die Kolchosewirtschaft
als „Leibeigenschaft““' (er hatte eine ukraini¬
sche Mutter). Aber selbst Gorbatschow ließ die
Kinder Kiews - Kyjiws - zur 1. Mai-Parade auf¬
marschieren, obwohl er wusste, dass fünf Tage
zuvor ein Reaktor in Tschernobyl explodiert war,
130 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt
entfernt. Die Regierung wusste von der Gefahr,
spät und bekümmert kam der ukrainische KP¬
Chef Wolodymyr Schtscherbyzky zur Parade,
der Generalsekretär der KPdSU hatte ihm be¬
fohlen, die Parade mit Tausenden Menschen
nicht abzusagen: „Wenn Sie die Parade vermas¬
seln, können Sie Ihren Parteiausweis abgeben“,
sagte Michail Gorbatschow.“?
Putin hat ursächlich mit dem Polizei- und
Propagandastaat zu tun, der 70 Jahre lang lügte,
wie es ihm gefiel. Die putinschen „Argumente“
für den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine