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sind nicht neu. Als 1932 Mychajlo Hruschews¬
kyj, der größte ukrainische Historiker, einem
Schauprozess unterzogen wurde, „entlarvte“ die
Sowjetregierung ihn als „ukrainischen bürgerli¬
chen Nationalisten und Faschisten“, der die „Ab¬
spaltung der Ukraine von der UdSSR und ihre
Unterwerfung unter den kapitalistischen Westen
betrieb.“* Das war sieben Jahre vor dem Pakt
zwischen dem nationalsozialistischen und dem
sowjetischen Regime, auf den die Zerschlagung
europäischer Nationen durch die Paktpartner
folgte. Dazwischen „säuberte“ der Große Terror
mittels „nationaler Operationen“ („lettische“,
„polnische“, „deutsche“, „griechische“ usw.)
und verschärfte die Sippenhaft, die bereits seit
1921 bestand. Kinder unter 15 Jahren wur¬
den von ihren Eltern getrennt und — zwecks
„Delokalisierung““* - in weit entfernte Heime
eingewiesen. Wie beim Holodomor fanden sich
ideologisch der Sowjetunion zugeneigte Schrift¬
stellerInnen und Intellektuelle außerhalb der
Sowjetunion, die den Großen Terror verharm¬
losten oder sogar verteidigten, darunter uns lieb
gewordene AutorInnen.“ Zu keinem Zeitpunkt
jedoch war das Informationsvakuum so total,
dass man es nicht hätte wissen können, davon
zeugen die Schriften von Arthur Koestler, sein
1940 erschienener Roman „Sonnenfinsternis“
oder die 1944 geschriebene Erstfassung von
„Sowjet-Mythos und Wirklichkeit“. Koestler
ahnte, dass sich das Sowjetregime mit Hilfe des
„Antifaschismus“ weißwaschen würde.“ Molo¬
tow, der am Holodomor wie am Großen Terror
beteiligt war, rechtfertigte den Großen Terror
1970 so: „war notwendig [...] Überreste der
Feinde verschiedenster Richtungen existierten,
und sie hätten sich angesichts der drohenden fa¬
schistischen Gefahr vereinigen können“ Neun
Monate nach „Ende“ des Großen Terrors (er
dauerte im engeren Sinn bis November 1938),
unterzeichnete Molotow den Hitler-Stalin-Pakt,
auch Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt: 24.
August 1939.

Der Antisemitismus war stets Teil der Sowje¬
tunion; heute ist die Russische Föderation der
weltweit größte Produzent von Fake News.

Die modernen Verschwörungserzählungen
unserer Zeit bauen auf die ältesten massenhaften
Verschwörungserzählungen auf: Antisemitis¬
mus, Antifeminismus.

Je mehr Fake News, je mehr Verschwörungs¬
erzählungen, desto mehr Antisemitismus und
Antifeminismus.

Hitler und Stalin und ihre Handlanger haben
sich mit ihren Verbrechen gegenseitig weißge¬
waschen.

Wenn die Erinnerungskultur „rote Linien“

akzeptiert, in dem sie sich an einer Moskau
freundlichen Interpretation der Geschichte

92 _ ZWISCHENWELT

orientiert und im Sinne kommunistischer
Parteien oder Organisationen „erinnert“ und
„gedenkt“, dann macht sie nichts anderes als
jene, die einem Massenmörder das Ziehen „ro¬
ter Linien“ zugestehen — das heißt, der Mas¬
senmörder erhält Kriegsbeute, im Namen des
„Friedens“ der Freien.

Hitler ist nicht durch den Kampf gegen
den Antisemitismus besiegt worden, sondern
durch eine Nationen übergreifende Anti-Hit¬
ler-Koalition. Dafür brauchte es Waffen und
Bewaffnung des Widerstands. Erst mit Hitlers
militärischer Niederlage war die Vorausset¬
zung für die Möglichkeit geschaffen worden,
Geschichte aufzuarbeiten und Antisemitismus
zu bekämpfen.

In unserer Zeit, 2023, wäre es ja noch begreiflich,
wenn der Wjatscheslaw Molotow und Joachim
von Ribbentrop Pakt bei rechts- und linksradi¬
kalen Parteien und Organisationen nachwirkte.
Aber sie finden sich auch in Teilen der Sozialde¬
mokratie, in NGOs, von globalisierungskritisch
über feministisch über menschenrechtlich bis
(vulgär-)marxistisch, ja, selbst in der katholischen
Kirche. Auf mich wirkt es, als bestünde eine
Möglichkeit, in die Zeit des Eisernen Vorhangs
zurückzureisen, in die gute alte Zeit der eigenen
Jugend und Kindheit. Dort, wieder Kind, bauen
wir den Eisernen Vorhang neu, geben die Leute,
die Putin haben will, dahinter und uns davor.
Sagen „Frieden“, gehen unseren Geschäften nach
und hoffen das Beste. Und erzählen unseren Kin¬
dern, was uns wichtig ist.

Tanja Maljartschuk, die diesjährige "Iheo¬
dor Kramer Preisträgerin für Schreiben im
Widerstand und im Exil, hat einmal in einem
Interview ihr Befremden über österreichische
Linke geäußert, die ihr, die sie in der Sowjet¬
union geboren wurde, in Wien die Sowjetunion
schmackhaft machen wollten.

Von Wien und Berlin fahren Züge und Busse
in die Ukraine, von Indien aus braucht es ein
Flugzeug. Dennoch:

Ich kenne solch eine Entscheidung und solche
Worte nicht von einer Österreicherin. So sprach
eine indische Frau: „Sie erschießen die Leute und
essen buchstäblich neben ihnen Frühstück“,
erklärte am 12. September 2022 Kavita Kris¬
hnan, die langjähriges Mitglied des Politbüros
und über 20 Jahre Mitglied des Zentralkomitees
war und gerade aus der kommunistischen Partei
Indiens ausgetreten war. Sie ist eine der furcht¬
losesten Stimmen gegen Gewalt an Frauen und
begründete ihre Entscheidung mit der lauwar¬
men Reaktion der kommunistischen Partei und
der fehlenden Hilfe für das überfallene Land:

„Ich kann ihnen nicht in die Augen sehen und
sagen: Oh! Denkt Ihr nicht, es war besser für

Eure Großeltern von Stalin umgebracht worden
zu sein als von Hitler?

Wir können nicht sagen, eine Ideologie, eine
Religion ist schlecht ... außer es ist meine Ideo¬

logie, meine Religion.“

Die Linie verläuft nicht zwischen Kapitalismus
und Kommunismus, sie verläuft zwischen De¬
mokratie und Tyrannei.

Jede Tyrannei frisst Zeit. Sie frisst Menschen,
sie tötet, sie frisst die Lebenszeit derer, deren
Leben sie beschädigt und zerstört, sie frisst das
Lachen der Kinder, sie frisst die Liebe, aber sie
frisst auch die Zeit der Menschen im Widerstand
— und der, die dem Widerstand helfen.

Wir können diese Zeit nicht „einsparen“.

Ich möchte meinem Kind einmal erzählen kön¬
nen: Wir haben lange gebraucht, aber dann...
haben wir dem Widerstand so geholfen, dass
es einen Unterschied machte. Dass der Aggres¬
sor besiegt wurde. Dass die Menschen befreit
wurden. Dass die verschleppten Kinder zurück¬
kamen.

Und nicht: Wir hatten keine Zeit.
2023: Ein Rückblick

Österreich in der Zeit des russischen Vernich¬
tungskrieges gegen die Ukraine

Silvester 2022, erste Jinnerwoche 2023: Ich sitze
unter dem Christbaum meiner Mutter und lese
den Beitrag von Martin Pollack, Theodor Kramer
Preisträger für Schreiben im Widerstand und im
Exil von 2019, auf den Seiten 173-182 meines
Weihnachtsgeschenks „Euromaidan. Was in der
Ukraine auf dem Spiel steht.“ Ich bin erschüttert
und beschämt. Denn die Wahrheit ist: Ich war
dabei, Martin Pollack fiir einen Beitrag über 2014
anzuschreiben und hatte, als ich entdeckte, dass
dieses Buch einen Beitrag von ihm unter dem
Titel „Abducken und Kopfeinziehen. Über die
Macht der Lügen“ enthält, das Mail abgebro¬
chen, um „sicherheitshalber“ zu schauen, was er
geschrieben hat. Und da steht: „Es ist erstaun¬
lich, wie leichtgläubig, geradezu beflissen manche
Intellektuelle die Behauptungen der russischen
Propaganda wiederholen. [...] Gudenus [...]
scheint noch irgendwie begreiflich. Österrei¬
chische Rechte wie Gudenus berufen sich gern
auf die „Volksabstimmung für den Anschluss“,
die Hitler im April 1938 in Österreich durch¬
führen ließ — nachdem deutsche Truppen das
Land besetzt hatten. Damals stimmten angeblich
über 99 Prozent mit Ja. Es ist verständlich, dass
stramme österreichische Rechte wie Gudenus die
Abstimmung auf der Krim lobenswert finden,