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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

In seinen Erinnerungen an den Klavierunterricht bei Eduard Steuer¬
mann, dem wichtigsten Pianisten des Schönberg-Kreises, schrieb
Adorno einmal, das spezifische Moment der Darstellungskunst bei
Steuermann wie in der Schönbergschule insgesamt resultiere in der
Erkenntnis, „daß von der tragenden Analyse nicht Reduktion auf ein
mehr oder minder Allgemeines, aus den Kategorien der Tonalität
Abzuleitendes (...) zu fordern sei“; im Gegenteil: „ein Akzidens, wird
zum Wesentlichen, wie wenig auch die Konkretion von dem umfas¬
senderen musikalischen Idiom äußerlich abgetrennt werden kann“.

Darin liegen die eigentlichen Fragen der Darstellungskunst, soweit
sie die innersten kompositorischen Probleme durchsichtig machen soll.
Und darin liegt letztlich auch die Bedeutung des vorliegenden, über
800 Seiten starken, von Markus Grassl und Reinhard Kapp heraus¬
gegebenen Bandes aus dem Jahr 2002: Die Lehre von der musikali¬
schen Aufführung in der Wiener Schule. Das Buch präsentiert die
„Verhandlungen“ eines „Internationalen Colloquiums“ von 1995. Schon
nach den ersten Seiten, der klugen Einleitung der Herausgeber und den
Beiträgen von Burghart Schmidt über Werkgerechtigkeit, Susanne
Rode-Breymann über Karl Kraus und die Instanz der Sprache und Klaus
Lohrmann über die jüdische Tradition der Textauslegung wird klar, daß
die Fragen der musikalischen Aufführung, richtig gestellt, keine
Nebensache des Ästhetischen sind, daß sie vielmehr gar nicht isoliert
betrachtet werden können, werden sie nur scharf genug ins Auge ge¬
faßt.

Die Beiträge, die sich dann konkret mit einzelnen Interpreten und
Aufführungsfragen beschäftigen, umreißen keine einheitliche Lehre,
gar ein Lehrgebäude, sondern nur Versuche, jene Gegensätzlichkeit oder
Spannung, von der Adorno spricht, mit verschiedenen Mitteln begrifflich
zu fassen, in dem Bewußtsein, daß nur das Spiel selbst sie faßbar macht.
Erst in der praktischen Interpretation, in der Einstudierung und
Aufführung eines einzelnen Werks könnte das beständige Räsonnieren
darüber, das der Band festhält, zu einem -— seinerseits wiederum nur
vorübergehenden — Resultat führen. Und bei der Lektüre einiger der
Beiträge und Diskussionen des Bandes entsteht geradezu das
Bedürfnis nach einer CD, auf der die jeweiligen Gedanken zur Auf¬
führung auch sogleich hörbar gemacht werden könnten. Allerdings fin¬
det sich im Appendix eine Zusammenstellung der Tonaufnahmen, die
Schönberg, Webern sowie Schüler Schönbergs, Weberns oder Bergs
hinterlassen haben. Daneben bietet der umfangreiche Anhang auch ein
Verzeichnis der Editionen und Bearbeitungen von Mitgliedern der
Wiener Schule und etwa 200 gesammelte Kurzbiographien aus die¬
sem Kreis sowie ein Literaturverzeichnis, so daß der Band auch als
instruktives und auf den neuesten Stand gebrachtes Handbuch zur
Wiener Schule verwendet werden kann.

Georg Knepler war noch ein Meister darin, die Erkenntnisse über
Musik spielend vorzuführen: er konnte wie nur wenige am Klavier do¬
zieren, vortragen im doppelten Wortsinn. Auch er hatte bei Steuermann
studiert — einige Jahre nach Adorno und etwas länger. In seinem Beitrag
für das Kolloquium über diesen „Unterricht bei Steuermann“ berich¬
tet er über eine überraschende Erfahrung beim Appassionato- bzw.
Rubato-Vortrag: Steuermann sagte, die linke Hand müsse „trotzdem
im Takt bleiben. Das sei zwar sehr schwer, aber es müsse gelingen,
die linke Hand dürfe nicht nachgeben.“ Nur wenn sie nicht nachgibt,
kann der innere Gegensatz im Tempo hervortreten, und es entsteht kei¬
ne falsche Versöhnung in der Musik.

So ist auch verständlich, was den Schönberg-Schüler Erwin Stein
in seinen theoretischen Beiträgen für die Fachzeitschrift für Dirigenten
Pult und Taktstock motivierte, gerade „die Ausgestaltung des Details
sowie seine Relationen mit anderen Elementen der Komposition im

Hinblick auf ihre Aufführung begrifflich zu fassen“. Michael Fend, der
über Stein referiert, kann dabei auch auf einen wichtigen Ahnherr der
Lehre von der Aufführung in der Wiener Schule aufmerksam machen:
„Aufgrund seiner Erfahrungen mit Mahlers Dirigierstil“ führe Stein
„die Suche nach dem plastischen Detail“ zu dem Postulat, daß eine
Aufführung „jedem Element die äußerste Charakteristik verleihen“ sol¬
le, während zugleich die Suche nach dem Zusammenhang der Elemente
das physikalische Bild nahelegt, daß jede Phrasierung ein „mit einem
Maximum an Energie geladenes Kraftfeld“ bilde.

Reinhard Kapp hebt an einer Stelle seines Beitrags über Schönberg
und Cage hervor, daß Rudolf Kolisch wiederum für das Geigenspiel
die Unabhängigkeit der Hände voneinander — etwa zur komplementären
Ausführung der Dynamik — vorangetrieben habe, z.B. um den spezi¬
ellen Charakter des pianissimo espressivo hervorzubringen: „links fortis¬
simo“ (soll heißen: stärkstes Vibrato), „, rechts pianissimo“ (sehr schwa¬
cher Bogendruck). Über Kolisch selbst finden sich mehrere Beiträge
in dem Band, die seine Bedeutung als Geiger, Kammermusiker und
Musikpädagoge der Wiener Schule endlich in gebührender Weise her¬
ausarbeiten. Es findet sich auch das Foto einer Aufführung von
Schönbergs 1. Quartett op.7 beim Black Mountain College im Jahr 1944.
Kolisch hielt damals einen Kammermusikkurs mit dem Titel „De¬
mocratic Principles of Ensemble Playing“, der aus 20 öffentlichen
Proben zu diesem Quartett Schönbergs bestand. Das Foto dokumen¬
tiert etwas von diesen Prinzipien: nicht nur die einzelnen Musiker spiel¬
ten aus der Partitur, diese wurde auch auf eine Leinwand projiziert,
damit das Publikum dem Geschehen besser folgen konnte. Kolisch trat
massiv dafür ein, daß bei Aufführungen prinzipiell keine Stimmen mehr
verwendet würden, jeder Musiker stattdessen nur aus dem Ganzen der
Partitur seine Stimme herauslese, denn ohne den Gesamtzusammen¬
hang, so Dörte Schmidt, könne ein Ausführender die für die Artiku¬
lation entscheidende syntaktische Bedeutung der einzelnen Phrasen
seines Parts nicht mehr wirklich erschließen. Die Kenntnis des Ge¬
samtzusammenhangs ist aber für Kolisch nur die Voraussetzung dafür,
daß der einzelne Spielende seine Individualität in der Realisierung der
einzelnen Stimme überhaupt erst entfalten kann: „That individuals
should play independently following their own initiative, realising their
own imagination and at the same time meet exact musical congruen¬
ce to fullfill the score“ — so Kolisch in der Einleitung seines 1940/41
an der New Yorker New School for Social Research gehaltenen Kurses
„How to rehearse and play chamber music?“

Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule
konnte sich im Exil, insbesondere in den USA entfalten. In Wien selbst
ging sie in den Untergrund: Hier waren es Musiker und Musikerinnen
wie Anton Webern und Erwin Ratz, Olga Novakovics und Friedrich
Wildgans, die jene Democratic Principles unter den Bedingungen des
Dritten Reichs fortzuführen trachteten. Wenn vielleicht etwas am vor¬
liegenden Band zu kritisieren ist, dann, daß er dieser vergessenen
Konstellation im Dritten Reich zu wenig Aufmerksamkeit widmet. Hier
müßten allerdings auch die Widersprüche in Weberns Entwicklung dis¬
kutiert werden: seine vorübergehenden, offenbar durch Familienmit¬
glieder vermittelten Sympathien für den NS-Staat und eine gewisse
ideologische Eingebundenheit in die deutsche „Volksgemeinschaft“
auf der einen Seite; seine lebenslange Verbundenheit Schönberg ge¬
genüber und sein vorbehaltloses Engagement für jüdische Schüler wie
Joseph Herschkowitz auf der anderen. Auch wäre endlich deutlich zu
machen, inwiefern die vielfachen Aktivitäten im Umkreis des
Schönberg-Schülers Erwin Ratz zur Rettung der Verfolgten mit der po¬
litischen und moralischen Bedeutung Schönbergs in Zusammenhang
stehen, die von seiner Musik - ihrer kritischen Auseinandersetzung mit

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