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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

in Wien die Internationale Mahler-Gesellschaft, in deren Rahmen
er auch mit der Herausgabe der Kritischen Gesamtausgabe be¬
gann. (Im Jüdischen Museum wird im September 2005 zum fün¬
fzigjährigen Bestehen der Gesellschaft eine Ausstellung eröff¬
net werden, an der mitzuarbeiten Herta Blaukopf sich bereits
vorbereitete.)

Zwischen 1938 und 1945 aber war Erwin Ratz das organi¬
satorische Zentrum eines geheimen Wiener Schönberg-Bundes,
nämlich der wenigen in Wien verbliebenen Schüler des berühm¬
ten Komponisten, der nach Amerika ins Exil flüchten mußte.
Daß es dabei nicht um die Kontinuität einer esoterischen Mu¬
sikauffassung ging — obwohl man gerade hier der Esoterik im
eigentlichen Sinn mitunter zuneigte —, sondern um eine des
Bewußtseins von dem, was das menschliche Leben und die
„Moralität der Einsichten“ bestimmen soll, hat Herta Blaukopf
in einem überaus aufschlußreichen Interview (Orpheus in der
ZW, Nr. 2/2002) hervorgehoben. Hier erzählt sie über ihre
Jugend im Wien zwischen ‘38 und ‘45 und ruft in Erinnerung,
mit welcher Folgerichtigkeit Erwin Ratz bereit war, den
Verfolgten zu helfen, und daß es ihm durch umsichtigen wie kon¬
tinuierlichen Einsatz wirklich gelang, Menschenleben zu ret¬
ten. Um sie vor Deportation zu bewahren, versteckte Ratz in
seiner Wiener Wohnung, wie seine Tochter Brigitte berichtet,
jeweils mehrere Monate eine Bekannte aus Berlin, die sich durch
Ungarn nach Rumänien zu Verwandten durchschlagen wollte,
und den Wiener Kinobesitzer Hans Sidon, sowie über einein¬
halb Jahre Hans Buchwald, den Lonny Ratz, seine erste Frau,
zuvor in Berlin versteckt hatte. Josef Polnauer, wie er Schön¬
berg-Schüler und bedeutender Lehrer in der Tradition der Wiener
Schule, der als „U-Boot“ ebenfalls überleben konnte, versorg¬
te Ratz mit Lebensmitteln. Zwischen den Mehlsäcken seiner vom
Vater übernommenen Bäckerei verwahrte er außerdem Partitu¬
ren und Schriften Hanns Eislers, dem er bereits finanziell ge¬
holfen hatte, in die USA zu emigrieren.

Als Herta Blaukopf nun bei ihrer Arbeit für den Artikel über
die Mittelsätze von Mahlers Sechster auf den ersten Brief stieß,
den Ratz nach 1945 an Schönberg schrieb, an ihn schreiben
konnte, war sie erschüttert, wie sie selbst uns mitteilte. Er¬
fahrungen aus ihrer Jugendzeit wurden wieder gegenwärtig und
spotteten einer Gegenwart, in der vermutlich gerade geplant wur¬
de, auf dem Heldenplatz die Reiterstandbilder „einzumauern“,
um der leidenden Volksgemeinschaft in den Bombennächten zu
gedenken. Ratz, dessen Einsatzes in jenen Jahren offiziell nie¬
mand gedenkt, berichtete im Juni 1946 eindringlich und ohne
Selbstmitleid von einem „Zustand schwerster Erschöpfung und
Beklommenheit“, in dem er nun seit über einem Jahr lebe. „Auch
dieser Brief soll nur ein kurzes Lebenszeichen sein, fast wie ein
Klopfzeichen eines, der verschüttet ist.“ Man gewinne den
Eindruck, so Ratz weiter, „daß die Menschen nichts gelernt ha¬
ben aus der furchtbarsten Zeit, die je über sie hereingebrochen
ist.“ Von ihm „persönlich“ sei „nicht viel“ zu berichten: „Es war
mir vergönnt in den furchtbaren Jahren einer Reihe von Men¬
schen helfen zu können. Aber wie wenig ist dies gegen alles
Entsetzliche das geschehen ist.“ Zugleich berichtet Ratz jedoch
von dem Halt, den er Schönberg verdankte: „Ich habe in den
Jahren des Grauens ständig mit Dr. Webern gearbeitet, wir ha¬
ben Beethoven analysiert und ständig waren unsere Gedanken
bei Ihnen.“

Herta Blaukopf war in den Jahren des Grauens — als sie und
ihre Mutter nicht nur den Vater vor Verfolgung schützten, son¬

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dern auch dessen Schwester ein Versteck boten — Schülerin von
Webern. Sie, die damals Herta Singer hieß, lebte und lernte al¬
so in jenem ‚Untergrund’, den die in Wien ausharrenden Schön¬
berg-Schüler bildeten. Nationalsozialismus, der seinem Wesen
nach auf die Vernichtung des Judentums zielte, bedeutete auch
in diesem Kreis, daß die Bedingungen, überhaupt zu überleben,
für die einen unermeßlich schwieriger waren als für die ande¬
ren — darin lag das Entsetzliche, das Ratz andeutet. Um so wich¬
tiger wurde offenbar ihr innerer Zusammenhalt, der sich dem
entfesselten politischen Wahn widersetzte (und sich schließlich
auch bei Webern gegenüber gewissen anfänglichen Sympathien
für die Nazis behaupten konnte). Diesen Zusammenhalt hat Herta
Singer, die genau in der Mitte stand, in sich aufgenommen, ein
Leben lang bewahrt und in einzigartiger Weise zum Ausdruck
bringen können.

Zum ‚Untergrund’ der Wiener Schule gehörte auch ihre
Klavierlehrerin Olga Novakovic, vermutlich die erste Schülerin
Schönbergs. Über sie wollte Herta Blaukopf — kurz bevor sie
im September 2004 ins Krankenhaus mußte — anschließend an
ihre Gedanken zu Ratz einen Essay (für Orpheus in der Zwi¬
schenwelt) schreiben. Es war ihr bewußt, daß nur sie imstan¬
de war, die vergessene Lehrerin zu porträtieren, und sie woll¬
te bei diesem Porträt, das nun für immer verloren ist, von ei¬
nem Glückwunsch ausgehen, den Novakovic einst zu
Schönbergs Geburtstag im Jahr 1934 formuliert hatte.’ Darin
ist von der „Gegenwärtigkeit“ des Lehrers, der sich bereits im
Exil befand, die Rede: „Schönbergschüler‘ zu sein heiße, „trotz
Wanderns und Irrens, das er an uns liebte, weil er den Ausgang
nicht fürchtete“, jenen Maßstab zu haben, der „Wahrheit in Kunst
und Leben als Ziel setzt“.

Anmerkungen

1 Herta Blaukopf: „Aus drei mach zwei, aus zwei mach drei!“ Die
Stellung der Innensätze in Mahlers Sechster Symphonie. In:
Nachrichten zur Mahler-Forschung 51/2004, S. 70-76.

2 The Correct Movement Order in Mahler’s Sixth Symphonie, New
York: The Kaplan Foundation 2004.

3 Gerade Theodor W. Adorno, der in Sachen Mahler seinem Lehrer
Alban Berg ebenso wie den Forschungen von Erwin Ratz verpflich¬
tet war, lieferte in seinem „Dritten Mahler Vortrag“ von 1960 einen
wichtigen Beitrag zur Frage, in welchem Verhältnis die Sätze der
Sechsten zueinander stehen: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf
Tiedemann, Bd. 18, Frankfurt am Main 1984, S. 613.

4 Erwin Ratz an Arnold Schönberg, Brief vom 4. Juni 1946, Typo¬
skript, Kopie im Arnold Schönberg Center in Wien.

5 Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag, 13. September 1934, Wien
0.J.: Universal Edition, S. 25.

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