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(„sieben Tage Zahnschmerz“), Ende Juli mit Freund Paulsen in Triest, in Venedig verbringt er „7 Tage fast ohne Essen“, wieder zurück in Milano richtet er sich ein, so gut es geht. Untermieter in Milano Das nackte Leben ist zunächst durch das jüdische Hilfskomitee, dessen Personal sich zum Teil aus Emigranten rekrutiert, gesichert: Man erhält eine Anweisung für zehn Mahlzeiten und fünfzehn Lire für die erste Woche. Die Ausspeisung, ganz gleich, ob sie in einer Volksküche oder einer „von reichsdeutschen jüdischen Emigranten gepachteten Trattoria“ stattfand, ist immer gleich gräßlich: als Suppe gelbliches heißes Wasser, dann „kleingeschnittene Kartoffeln in einer undefinierbaren Sauce, dazu [...] Knochen mit Fleischresten. Niemand [...] darf etwas sagen, weil ja keiner bezahlt.‘“* Trotz der als grausam empfundenen Lage, des Geldmangels, der Unterernährung, manchmal bis hin zur Ohnmacht, versucht der Schriftsteller etwas „Absolutes“ zu schaffen, quält sich mit kompliziertesten Formund Gattungsproblemen ab, fühlt die Verpflichtung, eine ,,moderne Chronik“ zu schreiben — Gedichte scheinen angesichts der Weltlage nicht mehr zu genügen -, wird aber durch seine alltäglichen menschlichen Schwächen vom „Absoluten“ abgehalten, so wie es ihm auch nie gelingt, die Ausgaben für die unwiderstehlichen Bücher durch Einsparungen beim Rauchen 46 zu kompensieren. Hier, beim fortgesetzten, ausführlich kommentierten Kampf gegen die Zigarette erinnert uns Hakel sehr an den Protagonisten von Italo Svevos La coscienza di Zeno. Aus der intellektuell wenig stimulierenden Umgebung seines Untermietzimmers weicht er in die Bibliotheken, die Brera und die Ambrosiana, aus. Dort, inmitten des von Kardinal Federico Borromeo erbauten Palazzo, begreift der „Wiener Vorstadtjunge“ zum erstenmal, was es heißt, ein großer Herr in stolzer Distanz zum Draußen zu sein: „Das ist Adel, Stolz, Besitz [...] als hätte der Blick in den Hof mich verwandelt.‘ Ansonsten beeindrucken von den Stadtbeschreibungen, die gegenüber den inneren Ereignissen keinen allzu großen Raum einnehmen, am meisten das Porträt der Galleria Vittorio Emanuele, gläserne Auslage der Metropole Milano, wo man „irre wird vor Schminklippen und Bärtchen, Seidenstrümpfen und Hosenbügeln, Stiefeln und hohen Stelzstöckeln, Parfum und krakehlender [sic] Armut“'‘, sowie der Bericht über eine groteske Freilichtaufführung des „Rigoletto“ vor Massenpublikum im Castello Sforza” und die Enttäuschung über den Mailänder Dom, der keine metaphysischen Schauer in ihm erweckt, sondern im Gegenteil: „Ich denke an Gerty. Wie viel mehr Göttliches - ihr Schoss!“"' Die Wellen von Heimweh, die immer wieder über dem Flüchtling zusammenschlagen, werden durch das Beste ausgelöst, das seine Geburtsstadt hervorgebracht hat: die Musik. „Geigengesang“ von Schubert aus dem Radio genügt und Hakel „zittert bis in [sein] Blut, als hätte [er] einen starkstromgefüllten Draht ergriffen“. Die Isotopie der Sexualproblematik des Autors prägt das Tagebuch aus Mailand, wo er genug Möglichkeiten zu Liebschaften hatte, besonders stark. Er selbst steht nicht an, von einer „auf jedes irgendwie noch aktive Weib“ gerichteten Lüsternheit”” zu sprechen, und der Leser staunt über die Ambivalenz eines Mannes, der einerseits süchtig und nicht immer in den erhabensten Formen Weiblichkeit konsumiert, vielfach aber die Konsumation der Frau als Verletzung von „sündloser‘”' Reinheit empfindet. Diese Zwiespältigkeit kommt auf eklatante Weise zum Ausdruck in der Beschreibung eines Mailänder Bordells, wo sich Hakel aus einem Kunden in einen kalten Beobachter verwandelt, der die Prostituierten „geschlachtetem Vieh‘ vergleicht. Seine lebenslange Gier nach Frauen dürfte ebenso wie seine bisweilen gnadenlose Misogynie?” herzuleiten sein aus einem verzweifelten Minderwertigkeitsgefühl angesichts der „gräßlichen Teilung [sJeines Körpers“: [...] hässlich [...] von den Hüften an. Nur mit einer Zehe erreiche ich links den Boden, auf dem der rechte Fuß ruht. Mager bis auf die Knochen das ganze Bein [...]. Ist das die Gegenleistung, die ich gab [...] fiir mein Schicksal, das mich heraushob und liebend machte am ganzen Leib, reizbar in jeder Pore und sinnlich in jedem Nerv? Der ich Hochzeiten feierte mit Himmel und Erde, mit Bäumen und Blumen, mit Gemälden, Musiken und marmornen Gestalten [...]* So, zwischen letztlich immer enttäuschenden Beziehungen zu Frauen, der anstrengenden Aufrechterhaltung des Kontakts mit zurückgebliebenen oder in alle Welt verstreuten Angehörigen und Freunden, der Suche nach Informationen zum Weltgeschehen (bevorzugt die offensichtlich leicht erhältlichen Basler Nachrichten), immer neuen literarischen Anläufen, mehr oder weniger akutem Hunger und Angst vor der Ausweisung verbringt Hakel die nächsten Monate. Zyklisch wiederholen sich der Ankauf von Büchern und die darauffolgende Reue: [...] 33 Lire. Wahnsinniger Betrag. Wenn man bedenkt, daß ich 15 Lire wöchentlich Komiteeunterstützung erhalte, 150.—