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Kind“) eingegangen war, gab er Anfang 1944 einen zusammenfassenden Bericht über die letzten Monate: Ich müßte erzählen [...]: wie ich mich entschloss, Rotonda zu verlassen, um meine Befreiung durchzusetzen, wie ich ins Lager Ferramonti kam, wie mich englische Offiziere im Auto „siegreich heimbrachten“ und dem Maresciallo [der Carabinieri in Rotonda] eine Lektion erteilten; wie ich Wolle kaufe und verkaufe, Geld leihe, um Geschäfte zu machen [...], wie in den letzten Tagen meine Revue zweimal aufgeführt wurde; daß ich wieder Karten spiele, flirte, rauche und alle Kraft zum Schreiben verloren habe. Ich kann nicht mehr. Das Geschäft frißt meine Gedanken.® Hakel reiste in verschiedenen Angelegenheiten, auch nach Bari und Brindisi, wo er Geld, Nachrichten und Fotos von seiner nach Palästina emigrierten Familie erhielt. Schmuggel, Schleichhandel und Wucher blühten in den Hafenstädten; der Krieg stagnierte südlich von Rom. Die italienische Front war für die Alliierten, die ihre Kräfte im Westen konzentrierten und die Landung in der Normandie vorbereiteten, sekundär, und Italien schien „in der Erwartung zu verfaulen‘“. „Das Volk tut nicht mit“, konstatierte Hakel, „Verrat ist immer möglich“, und hielt es für günstig, sich in einen Hafen zu begeben, um schnell eine eventuell notwendige Flucht vor den Deutschen antreten zu können. Im Sammellager von Bari, wo der Wiener im März 1944 ankam, waren nach seinen Angaben 900 befreite Juden untergebracht. In der Stadt traf er auch den bedeutenden österreichischen Schriftsteller Franz Theodor Csokor, der auf der Flucht von der Insel Koréula tibergesetzt war und den Rang eines britischen Offiziers erhalten hatte. Csokor arbeitete, wie der ebenfalls in Bari gelandete Alexander Sacher-Masoch, fiir den Psychological Warfare Branch, auBerdem fiir die OsterreichAbteilung der BBC. Hakel wurde später, nachdem man ihm all seine Habe gestohlen hatte, aus finanziellen Gründen Referent im Palästina-Amt von Bari. Gemeinsam mit Csokor hielt Hakel in Bari seine „erste öffentliche Autorenvorlesung nach mehr als 6 Jahren‘”'. Die Zusammenarbeit der beiden sollte sich dann im Nachkriegs-Wien im Pen-Club fortsetzen. Die Leiden und Entbehrungen der vergangenen Jahre, dazu die hektische Tätigkeit und die pikarische Lebensweise der zuletzt verflossenen Monate, gepaart mit der Ungewißheit über die Zukunft, hatten Hakels Gesundheit untergraben; Nach wiederholten Zusammenbrüchen wurde er schließlich Ende September mit einem schweren Herzanfall ins Krankenhaus eingeliefert, wo er „5 Wochen zwischen Todesangst und Lebensgier, Müdigkeit und letzter Wollust, Geilheit hin und her“” schwankte. An seinem Krankenlager erschien auch eine Frau Dr. Fuchs, verheiratet mit Capt. Dr. Georg Fuchs, einem in englischen Diensten stehenden ehemaligen Wiener Universitätsprofessor und Vertreter der „Freien Österreichischen Weltbewegung*“ in Italien”. Kaum wieder in sein altes Mietzimmer zurückgekehrt, zwang Hakel, „obwohl es [ihm] verboten ist, Lina zu [sich] ins Bett. [...] Darauf den ganzen Tag geschwächt ... ängstlich‘. Europa oder Erez Israel? Die Frage nach der Identität Abgesehen von den sexuellen Obsessionen füllen zunehmend und quälend, weil immer aktueller werdend, Fragen nach seiner Identität die Tagebuchseiten: Die Alternative Erez Israel oder Rückkehr ins Herz Europas, wo man Millionen von Juden kaltblütig hingemordet hat, läßt sich nicht mehr umgehen, und oft fühlt sich Hakel trotz allem mehr als Christ geprägt denn als Jude: Was soll ich dort in Asien, auch wenn es das Land meiner Väter vor 2000 Jahren war? Und bin ich wirklich ein Jude? Was ist an mir jüdisch? Mein Aussehen? [...] Meine Denkweise? [...] und doch: was habe ich mit diesen Menschen zu tun, die da Politik treiben um ein Land? Bin ich nicht doch ein Christ, als letzte Vervollkommnung jener Idee der Weltflucht, Überwindung, die mir und uns eigen ist? [...] Erbteil der Religion; die Kultur, die Kunst — und wer sich darin eingelebt hat, gehört ihr an. Europa |[...] Christentum [...]; auch wenn ich die Doktrine [sic] nicht glaube, es ist doch mein Weltbild.” Mitte September scheint er eine Entscheidung getroffen zu haben: Trotz der Verlockung eines Wiedersehens mit seiner Familie in Palästina, will er das „Allgemeine“ vorziehen und in Europa bleiben: Gerade weil ich Jude bin [...] habe ich hier zu bleiben und abzurechnen mit Europa und unseren Feinden, jenen, die sich an uns verschuldigt [sic] haben. [...] Dort [in Erez Israel] sind die jungen, neuen Kräfte, denen ich nichts sein kann [...], hier aber bin ich der Abschluß einer tausendjährigen Entwicklung und Verpflichtung. Ein Vorbild, wenn es gelingt, was ich will, und ein gemeinsames Schicksal, wenn ich mit denen, die hier litten, fallen sollte. Wenn ich mich bis jetzt am Volk versündigt habe, ich werde es büßen. Aber ich weiß, daß ich [...] unseren tiefsten Traditionen treu geblieben bin. Daß wir ein Höheres wollten, daß wir eine Sendung hatten, die sich [...] weiter erfüllen soll. Nicht eine privat-vélkische, [...] das habe ich bei keinem Volk je anerkannt! Sondern eine menschheitlich-gemeinsame. Dieser Menschheit gegeniiber, besonders der europäischen, der wir die Bibel, einen Gott und eine Lehre geschenkt haben.” Hakels tiefste Überzeugung ist also, wenn ich ihn richtig interpretiere, trotz seines weitgehenden Wissens um den Holocaust — wir schreiben Ende 1944 — diejenige einer universalistischen spirituellen Sendung der Juden in der Diaspora, zumal in der europäischen. Zunächst aber setzt er im März 1945 doch nach Tel-Aviv über, um seine Familie zu besuchen; obwohl er dort in angenehmen äußeren Umständen leben könnte, verraten seine Aufzeichnungen eine unüberwindliche Desorientierung. Geradezu herzzerreißend bricht sich seine verzweifelt ambivalente Deutschland-Sehnsucht während eines Klavier-Konzerts von Robert Schumann Bahn: Das ist, was ich immer geliebt habe: deutsche Romantik. Da ist ein Wald und da ist ein Bach. Da ist ein Träumer, der ein Buch bei sich hat [...]. Da ist alles, was einmal schön war. Und das wird hier gespielt, 1945 in Tel Aviv, von zwei Juden für eine Handvoll anderer Juden. Sie alle sind hierher geflüchtet vor diesen Deutschen, aus dem Land der Konzentrationslager, der Massenmörder und Massengräber. Da hat einmal ein deutscher Meister auf seinem Instrument [...] phantasiert, — und ich lasse mich zurückholen in die Wälder und Träume meiner Jugend! Und während die Musik verklingt, denke ich, was ich so oft gedacht [...] und worauf ich [...] keine Antwort gefunden haben: „Was haben wir ihnen getan?“ Und als Hakel auf der Rückreise von Tel-Aviv im Sommer 1947 endlich in Rom ankommt, bekennt er jubelnd seine Liebe zu Europa: Heute früh die Glocken Roms. Jahrelang habe ich keine Glocken mehr gehört. Jetzt tönen sie mir so schön wie das täg51