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render Kalender"). Stärker ins Gewicht fallen jedoch zweifellos
Weinhebers Anleihen bei der historischen Kalenderliteratur von
Hesiod bis zu einem populären Kalender auf das Jahr 1932, die
die Forschung ausführlich belegt (F. Jenaczek). Gerade die vom
Dichter methodisch erarbeitete Eingliederung in die Tradition
. deutet daraufhin, daß es ihm nicht um Broterwerb mit der linken
Hand ging; und die lebhaft positive Rezeption belegt wiederum,
daß die im Kalenderbuch bewußt wiederbelebte Tradition we¬
sentliche Bedürfnisse ansprach.

Versuchen wir nun genauer zu bestimmen, was gerade im
Jahre 1937 an diesem Buch "erbaulich" wirken mußte, so bieten
sich zumindest drei miteinander verknüpfte Aspekte: kosmisch
geordnete Konzeption, emphatische Traditionsbejahung, Ein¬
bindung in den Naturkreislauf. Nur über den Begriff der
Ordnung läßt sich dieses Buch verstehen, denn es befriedigt auf
eklatante Weise ein maßloses Bedürfnis nach Ordnung, es be¬
stärkt, beruhigt, befriedet, es leistet der Illusion Vorschub, die
wesentlichen Momente des Lebens seien in 12 mal 7 lyrischen
Betrachtungen zu erfassen. Und in dieser Ordnungsphantasie
fügt sich Weinhebers Kalenderbuch genau in die herrschende
Linie des Ständestaats ein, in dem durch "autoritäre", gewaltsa¬
me Maßnahmen von oben alle "Unordnung! (sprich: alle politi¬
schen Alternativen) beiseite gefegt oder doch zum Schweigen
gebracht werden sollte. Für das Dritte Reich bot O Mensch, gib
acht im Vordergründigen weder Anstoß noch leistete es Vor¬
schub; in der biologischen Metaphorik und dem autoritären
Gestus zeichnete sich jedoch alles eher ab als ein Widerstands¬
potential gegen die herrschende Denkungsart: gerade auf dieser
Ebene der Denkstrukturen verschwimmen alle Unterschiede
zwischen dem - ostentativ gegen den Nationalsozialismus ausge¬
richteten - Ständestaat und dem Dritten Reich.

Mit den bisher geleisteten Annäherungen an einzelne Ge¬
dichte haben wir eine (schmale) Textbasis erarbeitet, auf der sich
einiges grundsätzliche über die Situation der österreichischen
Lyrik jener Jahre aussagen läßt. Während noch in den zwanziger
Jahren wichtige Wegbereiter der modernen österreichischen
Dichtung mit neuen Veröffentlichungen wirkten, scheint
während der dreißiger Jahre der Traditionsfaden abgeschnitten,
die Entwicklung im Stocken oder gar rückläufig. Rilke, ein
ferner Lehrmeister, war 1926 gestorben, Hofmannsthal 1929,
Wildgans (nur mit Abstand zu nennen) 1932. Karl Kraus, dessen
lyrisches Werk in neun Bänden Worte in Versen 1916-30 erschie¬
nen war, veröffentlichte 1931 einen letzfen Gedichtband, die
zeitgeschichtlich bezogenen satirischen Einlagen nach dem
Muster Nestroys und Offenbachs, Zeitstrophen. So blieb nur
Werfel als letzter herausragender Dichter der älteren Genera¬
tion, der 1935 nach langem Schweigen seinen letzten Gedicht¬
band vor der Emigration herausbrachte, Schlaf und Erwachen,
eine entrückte, zurückgezogene Sammlung von höchstem
Niveau, von der jedoch keine Impulse mehr ausgingen. Somit
wird Weinheber ab 1934 zum repräsentativen Dichter Öster¬
reichs, der das als Gunst der Stunde erfährt, was andere Dichter
verstummen läßt und in die Emigration treibt. Epiker wie Musil,
Broch und Canetti werden im Ständestaat nicht verstanden und
nicht gefördert; die Lyriker der Sozialdemokratie sind im Exil
(Luitpold, Brügel) oder im Untergrund (Soyfer). In der zuneh¬
menden Polarisierung der österreichischen Gesellschaft zwi¬
schen den Vertretern des quasi-faschistischen, jedoch unabhän¬
gigen österreichischen Staates und den Verfechtern der "Heim¬
ins-Reich"-Sache schrumpft die literarische Öffentlichkeit dra¬
stisch, nicht nur unter den Maßnahmen der Zensur, sondern
auch unter der Wirkung der zunehmenden Aussichtslosigkeit.

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Trotzdem ist die Literatur nicht, wie im Dritten Reich, vollstän¬
dig gleichgeschaltet; Faschisten und Antifaschisten, Juden und
Nicht-Juden, Sozialdemokraten und Katholiken teilen noch das
öffentliche Forum der Selbstverständigung, das Literatur heißt:
so kann ein Kramer, der im Dritten Reich unmöglich wäre, in
Österreich noch veröffentlicht werden. Gerade diese Situation
der noch "unentschiedenen" literarischen Öffentlichkeit macht
die österreichische Literatur jener Jahre zum lohnenden Stu¬
dienobjekt, besonders wenn wir uns vor Augen führen, daß die
geschichtliche Entwicklung für die Zeitgenossen ja nicht aus¬
weglos auf Anschluß und Weltkrieg zusteuerte, sondern, daß
trotz aller bedrohlichen Anzeichen Hoffnung und Eingreifen
noch am Platz waren.

In der Ziehharmonika und in O Mensch wird zwar keine
Sozialkritik geübt, kein zukünftiges Gesellschaftsbild entwickelt,
werden keine offenen politischen Statements abgegeben, aber
sie tragen die Signaturen jener Zeit, sind gesättigt von ihren
charakteristischen Hoffnungen und Ängsten, einmal jedoch aus
der Ohnmachtsperspektive und einmal aus der der Macht.

Was aus der Ziehharmonika aufsteigt, sind nicht nur die
extremen Nöte der Unterprivilegierten und der durch die
jüngste Wirtschaftskrise Betroffenen, die auf der Inhaltseberie
referiert werden, sondern auch die Marginalisierungserfahurng
des Dichters selbst, sei es nun in Form der radikal beschnittenen
Öffentlichkeit oder in Form von Verarmung und drohender
Verfolgung. Mit außergewöhnlicher Intensität sehen wir den
Blick des Dichters auf die Randzonen des Lebens fixiert: "Auf
eine erfrorene Säuferin", "Ausweisung aus dem Blindenheim",
"Kalte Schlote", "Lied eines Ausgesteuerten", so lauten seine
Gedichtüberschriften. Damit reagiert Kramer auf die zuneh¬
mende Ideologisierung der offiziellen Literatur (Österreich¬
Gedanke, Bauernlob, Scholle, beschworene Harmonie) und de¬
monstriert, wo in diesen Krisenzeiten die authentische Erfah¬
rung anzutreffen ist: nämlich "unten, wo das Leben konkret ist"
(Hegel, jüngst in der ZEIT bis zum Überdruß zitiert). Dahinter
läßt sich als Programm eine Solidarisierung ausmachen, die weit
über Parteiprogramme hinausgeht, eine radikale Verbrüderung
mit allem Leidenden, die alle Grenzen sprengt. Im Endeffekt
sehen wir Kramer mit diesem Gedichtband unwiderruflich zwi¬
schen allen Fronten stehen, denn diese Texte sind ebenso un¬
brauchbar für ein geschöntes Österreichbild, wie es der Stände¬
staat verlangte, wie für antifaschistische Zwecke. Und doch
leistet Kramers Lyrik Unschätzbares: sie bekräftigt Würde und
Authentizität des Lebens im Angesicht der Bedrohung, und sie
ist Gefäß für den schwer faßbaren, anarchistischen, aber umso
realeren volkstümlichen Widerstandsgeist.

Volkstümlich wollen auch Weinhebers Kalendergedichte
sein, doch endet der Versuch bei der Stilisierung, denn sie geben
sich historisierend, abstrahierend, begütigend und damit herab¬
lassend, und das authentische realistische Detail, das die Zieh¬
harmonika so schockierend lebendig macht, ist bei Weinheber
bewußt ausgegrenzt. Anstelle von Kramers Offenheit gegenüber
der Wirklichkeit finden wir bei Weinheber ein fanatisches Ord¬
nungsstreben, das die Augen gewaltsam vor allem Unerwünsch¬
ten schließt. Während Kramer an den Rand der Gesellschaft
auswandert und nur dort sangeswürdige Erfahrung findet, sehe
ich Weinheber sich im ideologischen Zentrum der faschistisch
werdenden Gesellschaft einigeln und seine Dichtung als Schutz¬
wall aufbauen: das "Erbauliche" im Untertitel gibt den Hinweis,
daß es sich um Selbstermutigungsliteratur handelt.

Keine kritische Beschäftigung mit Weinheber wird um sein
Einverständnis mit dem Faschismus herumkommen, das nur