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10 (die Morgenröte, zugleich der Panzerkreuzer, der im November 1917 mit seinen Geschützen die Kapitulation des Petersburger Winterpalais erzwang) akzeptiert ist. Der Briefwechsel gibt auch einen Einblick in die literarischen Anfänge des Schrifstellers (und nicht Verlegers) Herzfelde und in die zeitweise enge Zusammenarbeit zwischen Brecht und Viertel (die O.M. Graf verlanlaßte, Viertel einen Brecht geschäftig nachhuschenden Schatten zu spotten). Bemerkenswert ist die in den Briefen dokumentierte intensive Auseinandersetzung Brechts mit jenen Gedichten Viertels, die in dem Band “Der Lebenslauf” 1946 erschienen. Viertel sah sich gezwungen, Zeile für Zeile gegen die anderen Vorstellungen Brechts zu verteidigen und gelangte zu einem neuen Verständnis seiner eigenen Lyrik. “Zunächst brauche ich Tage, um mein eigenes Gefühl für das Gedicht wiederzufinden. So empfänglich ich auch für den Ton Brechts bin, so ist es eben doch sein Ton u. nicht meiner.” (20. Mai 1945). Wie klar schon damals die Notwendigkeit einer Geschichte der deutschsprachigen Exilliteratur angesichts des Kommenden gesehen wurde, belegen viele Stellen. Aus dem Projekt einer von mehreren Schriftstellern gemeinsam verfaßten Geschichte der Exilliteratur (deren ausführliches Konzept Pfäfflin dokumentiert) entstand dann F.C. Weiskopfs “Unter fremden Himmeln”, ein “Abriß der deutschen Literatur im Exil”, der allzu lange Zeit einzigartig blieb. Obwohl der Briefwechsel sehr mit Geschäftlichem belastet ist, enthalten die Briefe immer wieder Stellen von allgemeinerer Gültigkeit, so wenn Herzfelde über die Fixierung der jüdischen Herkunft Verfolgter nachdenkt und mit der heute wieder aktuellen Feststellung schließt: “Überdies vertreibt man derzeit wieder ganz andere Leute und ich glaube, man kann mit diesem Schicksal des Vertriebenseins sich kaum mehr beschäftigen, ohne zu präzisieren, wer wen vertreibt und warum.” (Brief vom 17. August 1945). Konstantin Kaiser Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940 - 1949. Hg. von Friedrich Pfäfflin unter Mitarbeit von Heidemarie Gruppe. Mainz: v. Hase & Koehler 1990. Es ist die Lyrik Theodor Kramers, die diesen allegorischen Teufelskreis durchbricht. Was sie von typischen parteinahen Texten, z.B. des Dichters Josef Luitpold, unterscheidet, ist vor allem der geringe Abstraktions- und Verallgemeinerungsgrad, sowie der leicht skeptische Ton, der sich auch gegen das Befreiungspathos behauptet.'® Achberger spricht treffend von der stillen Ausdruckskraft solcher Gedichte: sie bildet ein Allgemeines, Abstraktes in einem kleinen individuell und sinnlich nachvollziehbaren Moment ab!’. Und wiederum ist dies keine Frage einer akademischen Ästhetik, vielmehr von eminent sozialer und politischer Bedeutung. Denn: der Rand der Gesellschaft ist das Zentrum von Kramers poetischer Welt (...) Nur bei den Ausgegrenzten findet Kramer sagbare Erfahrung. Wenn am Beginn davon die Rede war, daß Friedrich Achberger den Blick auf das Ganze richtet, zeigt sich nun bei Theodor Kramer, daß es authentischer Kunst bedarf, damit dieser Blick nicht das Ganze mit Abstraktionen verwechselt und die Parteilichkeit mit einer Partei. Theodor Kramers Lyrik vermag vor solchen Abstraktionen zu schützen. Doch bietet sie keinen Indifferentismus an, sondern, wie der sensible Interpret schreibt, ein unausgesprochenes soziales Ethos, das sich an keinen Genuß verlieren kann, ohne des Leidens ringsum gewahr zu werden; das sich auch mit keinen Konventionen und Abstraktionen vor dem Ansturm des Leidens panzern will (..) Und die wiederum ist auf eine andere Weise politisch, nicht parteipolitisch und auch nicht jenseits der Parteien, sondern diesseits der Parteien, auf eine konkret-alltägliche Weise. 12 Geradezu programmatisch hat Kramer dieses spezifische Engagement in dem Gedicht “Für die, die ohne Stimme sind ...” zum Ausdruck gebracht. Schön sind Blatt und Beer und zu sagen wär von der Kindheit viel und viel vom Wind; doch ich bin nicht hier, und was spricht aus mir, steht für die, die ohne Stimme sind. Für des Lehrlings Schopf, für den Wasserkopf, für die Mütze in des Krüppels Hand, für den Ausschlag rauh, für die Rumpelfrau mit dem Beingeschwür im Gehverband. Ohne Unterlaß spricht es, viel schwingt Haß mit, ich bin nicht bös und bin nicht gut; wenn ich einsam steh, wenn ich schlafen geh, dünkt es mich, ich hab den Mund voll Blut. Wehrt mir, Leute, nicht, der ich so im Licht niedrig steh und sing: es währt nicht lang; eine kurze Zeit hört ihr großes Leid und vielleicht ein wenig auch Gesang.” Friedrich Achberger schreibt in der Interpretation eben dieses Gedichtes: solche Themen, solche Subjekte, die Niedrigsten und Kranken, die liegen sogar jenseits des Einzugsgebiets der Sozialdemokratie. Der Dichter spricht nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern für die Existenzen, die selbst in der proletarischen Hierarchie noch zu den nach unten Ausgegrenzten gehören. Hier liegt auch ein wesentlicher Grund für die unverminderte Authentizität dieser Texte. ! Wir können, glaube ich, aus dieser Interpretation Friedrich Achbergers sogar eine Prophezeiung heraushören: die Authentizität der Gedichte ist nicht nur unvermindert, ihre Aktualität steigert sich täglich. Wir erleben innerhalb der Arbeiterklasse einen Umbruch, eine Differenzierung ähnlich dem Wandel des