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Fortsetzung von Seite 14 den Text in die Gesamtheit des "Lesebuchs für Städtebewohner" zu stellen, die das Gesagte, insbesondere hinsichtlich von Brechts Methodik, vertiefen würde. Eine Lesart von Arnold Zweig aus dem Jahre 1935 sei hier zumindest unkommentiert mitgeteilt: Dieser hatte die Gedichte Mitemigranten vorgelesen, und der Eindruck sei "betäubend" gewesen: "Sie hatten niemals geahnt, daß ein Dichter die Wirklichkeit des bürgerlichen Lebens (in der Emigration) gestalten könnte, bevor sie selber diese erfahren hatten. Sie sollten, lieber Brecht, unseren Freund Herzfelde veranlassen, unter dem Titel ’Bertolt Brecht gestaltet die Erlebnisse der Emigration vor der Emigration’ diese Gedichte (...) wiederabzudrukken; die neuen Titel sollten Sie selber finden und das Erscheinungsjahr von Heft 2 der’Versuche’ immer mit anführen." Gerhard Scheit ist für diesen Beitrag zu danken, der zeigt, daß der Stachel, den das Werk Brechts besitzt, längst nicht stumpfgeworden ist. Was die Zuordnung der Seghers oder sogar Heiner Müllers zum Stalinismus betrifft, so müßte vor dem Verdikt - besser noch: stattdessen - der analytische Nachweis angetreten werden. Ein letzter Hinweis: Nicht nur Kunstwerke, auch Theorien haben ihre Schicksale. Einige literaturgeschichtliche Wertungen von Georg tiven Züge von stalinistischer Kunstpolitik nicht unwillig, sondern bereitwillig angenommen. Der gegen die "bürgerliche Dekadenzliteratur" geführte offensive Kampf geschah zeitweilig unter Berufung auf ihn, aber gegen seinen Willen. War er also ein Stalinist? Die Frage erübrigt sich angesichts der Kontraposition, die er zum Personenkult einnahm, angesichts des Demokratismus, den der kritische Marxist von den Blum-Thesen bis ins Spätwerk verfocht, angesichts seines furchtlosen Engagements im Budapester Aufstand von 1956. Schwieriger als die Tücke des Objekts ist die Tücke des Subjekts. Jener nachzuforschen, ist die schöne und schwere Aufgabe, die der Literaturhistoriographie immer von neuem bevorsteht. Harald Heydrich Anmerkungen: 1 Vorliegender Beitrag bezieht sich auf: Gerhard Scheit: Brecht, Soyfer und der Stalinismus. Bine Anmerkung. In: Mit der Ziehharmonika. Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft. Wien. Heft 1/1990, S. 10-11. 2 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in zwanzi; Händen, Bd. 8. Frankfurt am Main 1982. S. 26 (Band 5 der Werkausgabe). Frankfurt am Main 1980, S. 558. 4 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Frankfurt am Main 1985, S. 540. 5 Vgl. die unter diesem Titel vereinten Texte in: Bertolt Brecht, Prosa. Band I. Berlin und Weimar 1973. S. 200-202. \ 6 Brief Arnold Zweigs vom 18. August 1935; zitiert nach: Bertolt Brecht: Gedichte I, Band IX der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin und Weimar / Frankfurt am Main 1988, S. 352. Zu Harald Heydrichs "Fortgesetzten Überlegungen" Es freut mich, daß meine Anmerkung Harald Heydrich zur Replik aufgestachelt hat. Eine kleine Provokation der Brecht-Forschung war durchaus intendiert. Ich will darum nur einige Mißverständnisse aufklären: Es geht mir nicht um eine moralisierende Stalinismus-Kritik. Sie wäre wenig mehr als eine Fortsetzung des Gemurmels vom Personenkult, das jahrzehntelang, vor allem auch in der DDR, jede politische Stalinismus-Kritik blockiert hatte. Natürlich sind jene Formen des autoritären Charakters zu benennen, auf die der Stalinismus so erfolgreich bauen konnte. Primär aber wären - auch in der Literatur - gesellschaftliche Prozesse zu untersuchen - d.h. ungleichzeitige. Das Entstehungsdatum des Gedichtes und die spätere antistalinistische Haltung Brechts (die ich beide hervorhob) können darum kein Arment sein. Gerade in der Phase von Brechts ergang zur Arbeiterbewegung stößt man auf die frappierende Vorwegnahme - und sie ist apologetisch, nicht kritisch. Harald Heydrich meint: "Unausgesprochen steht hinter jeder Zeile die Frage, was Menschen zu Unmenschen macht". -Bezugspunkt aller möglichen Lesarten sollte doch sein, was in jeder Zeile steht, und was ausgesprochen wird. Nimmt man die Literatur beim Wort (und setzt nicht die ideologisch bequemste Lesart an seine Stelle), so ist der Zynismus des Brechtschen Gedichtes so wenig eine Aufforderung zum selbständigen Denken wie der eines Horrorfilms. (Harald Heydrich selbst weiß um ihre Verwandschaft.) Zynismus und Sadismus schließen sich nicht aus. Die Frage ist nur, wogegen man sich zynisch verhält. Der Sadist empfindet Lust am tätigen Zynismus den Opfern gegenüber. Und wer würde im Ernst leugnen, daß esMomente solcher Lust im Brechtschen Werk der zwanziger Jahre gibt? Man mag sich auch noch so emphatisch als "Asozialität" verklären. (Sollte man da nicht auch feministische Kritik ernster nehmen statt bloß keck zu fragen, ob Brecht "ein akzeptabler Mann" sei?) Ich sage: Momente; keineswegs betrifft dies die frühe Produktion. Brechts als solche, Gedichte wie "Die Legende vom toten Soldaten" oder Stücke wie die "Dreigroschenoper" und die "Kleinbürgerhochzeit" sind davon frei, verwandeln sie doch den Zynismus in Satire-und die Provokation wird, was sie sein sollte: konkret. Im Falle Heiner Müllers will ich einen Hinweis nachtragen: die Paradoxie seiner Stalinismus-Kritik habe ich in dem Aufsatz "Sex and Crime in GDR. Ein Aspekt der theatralischen Zerstörung der Vernunft am Beispiel Heiner Müller" (In: Interaktion 1. Das Wiener Sommersymposium. Wien 1987. S. 219ff.) zu analysieren versucht. Was die spätere Seghers betrifft, so kann ich nur anregen, eines ihrer Werke aus dem Exil (etwa "Transit" oder "Das siebte Kreuz") mit dem Roman "Das Vertrauen" (1968) zu vergleichen. Solche Lektüre könnte den besten analytischen Nachweis erbringen, wieviel der Verfall der Literatur mit dem des politischen Bewußtseins zu tun hat. Gerhard Scheit 15 "Weltuntergang" im Gemeindehof Das Dario Fo-Theater, auch Gemeindehoftheater benannt, setzte die 1989 begonnene Serie der Aufführungen von Jura Soyfers "Weltuntergang" heuer fort. Abgeschlossen wird mit einem Gastspiel in der CSFR, in Brno und Bratislava. (Nähere Auskünfte: FO-Theater, Tel. 58 8 30-310 / 315 o. 442936) . So. 1.7. Praha Do. 5.7. Brno Fr. 6.7. Bratislava Sa. 7.7. Stadtschlaining, Bgld. Agnes Hörtler Ein Tag Frühnebel bis zur Baumkrone Firmament mit Riesenball als Reflex klärenden Feuers das Gras ist giftig der Sex ist spitz Blut klebt am Beton Echo von Schüssen der SINN ist verwirrt der Tod schlägt Opfer vor Zeiten gezeichnet über Schuld und Sühne zieht er Furchen in labilen Seelen als Vorrat für lilafarbene Nebel Abendsonne glättet Sinne Natur wieder zu einem Lächeln gefärbt Semmering, Juni 1984