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Fritz Beer
Mehr als ich erwarten durfte

Ich bin ein Spätzünder. Ich habe den Einfluß der literarischen und politischen
Vorbilder meiner Jugend auf mein Weltbild erst in meinem achten Lebensjahr¬
zehnt verarbeitet: die sentimentale Naturverbundenheit Knut Hamsuns und
Jean Gionos (war es ein Zufall, daß beide Nazis wurden?); das soziale Engage¬
ment Emile Zolas (dessen Gesellschaftskritik mich so beeindruckte, daß ich die
Zweidimensionalität seiner Gestalten ignorierte); die läuternde Moralität
Romain Rollands und Andr& Gides (muß Güte unvermeidlich langweilig sein?);
die strenge Ergebenheit an das unverfälschte Wort, die Karl Kraus predigte
(kann man die Krankheit der Gesellschaft heilen, wenn man bloß eines ihrer
Symptome, den Mißbrauch der Sprache, bekämpft?); die eifernde Verpflichtung
zur kommunistischen Revolution (die ignoriert, daß dem Machbaren Grenzen
gesetzt sind); und Spinozas Weisheit, daß man eine verlorene Leidenschaft nicht
durch eine neue ersetzen soll.

Es gibt eine gültige Entschuldigung für diese Verzögerung und vielleicht auch
Unzulänglichkeit meiner intellektuellen und schöpferischen Entwicklung: ich
habe zu viel Umstürze, Widersprüche, Kriege, literarische Moden, Verlust mei¬
nes Sprachraums und verwirrende geschichtliche Veränderungen erlebt. Über
meinem Kinderbett hing noch das Bild Kaiser Franz Josefs und ich trug eine
Matrosenmütze mit der Aufschrift Gott strafe England! Ich war sieben Jahre alt,
als der österreichische Doppeladler durch den tschechischen Löwen ersetzt
wurde; 17 Jahre, als ich zum erstenmal in einer kommunistischen Demonstration
verhaftet wurde; 28, als ich in einem Güterwaggon versteckt vor der Polizei nach
Polen floh und, nach dem Stalin-Hitler-Pakt, in London mit der Kommunisti¬
schen Partei brach. Ich habe fast acht Jahre in der tschechoslowakischen Armee
gedient, als ein politisch, national oder religiös immer verdächtiger Landser, der
selbst als Freiwilliger während des Krieges seine Armeekameraden nicht über¬
zeugen konnte, daß es Deutsche gab, die keine Nazis waren und daß er an ihrer
Seite kämpfte, weil die Tschechoslowakei seine Heimat war. Ich schlug nach dem
Krieg die mir angebotene Karriere in Prag aus, weil ich die politische Entwick¬
lung vorausahnte und die Illusion hegte, ich könnte in dem damals noch toleran¬
ten, moralisch orientierten und festen Gefüge der englischen Gesellschaft Wur¬
zeln fassen.

Ich versuchte zweimal, mich von der deutschen Sprache loszusagen. Nach dem
Anschluß Österreichs ans Dritte Reich begann ich als Protest gegen ihren
Mißbrauch Erzählungen auf Tschechisch zu schreiben; und nach Kriegsende, als
ich mich lange Jahre mit den Lebenswerten Englands identifizierte, schrieb ich
Kurzgeschichten auf Englisch. Ich habe es beide Male nicht geschafft, obwohl
ich mich bemühte, die sprachliche, emotionelle und assoziative Entwicklung
eines Kindes und heranwachsenden Menschen in diesen beiden Sprachräumen
nachzuholen. Ich las Wiegenlieder, Kinderreime, Volkssagen, Klassiker, Krimi¬
nalschmöker, Gedichte, Schundliteratur, Geschichtsbücher und Witzblätter. Ich
brachte es mühsam zustande, grammatisch fehlerlose wenn auch idiomatisch
etwas holprige Erzählungen zu schreiben, aber es war keine Literatur. In meinem
Tschechisch oder Englisch gab es keine Musik, es klang zwischen den Worten
und Zeilen nichts mit, was einen korrekten Satz zur Literatur macht, mir fehlten
die unbewußten, unausgesprochenen, oft ungreifbaren Erfahrungen, die das
Persönlichkeitsbild und sein Empfindungsvermögen formen, ihre Nuancen,
Vieldeutigkeiten und Hintergründigkeiten. In den Fünfzigerjahren begann ich
eine englische Erzählung mit den Worten: Als John Cormack an diesem Morgen
ins ungeheizte Badezimmer ging, schwor er, daß er niemals wieder fröstelnd vor
einem Rasierspiegel stehen werde. Du wirst niemals ein englischer Schriftsteller,
meinte mein Freund, dem ich die Erzählung vorlegte, keinem Engländer macht
es etwas aus, sich in einem kalten Badezimmer zu rasieren.

Es gibt nur wenige Schriftsteller, die in einer zweiten Sprache Literatur schufen

Fritz (Bedrich) Beer (Pseudonyme: K.
Friedrich, Albrecht Laufer, Hans Stein
u.a.) wurde am 25.8. 1911 in Brünn
(Mähren) geboren, besuchte in Brünn
das Gymnasium und die Handelsakade¬
mie und war 1930-38 als Journalist ver¬
schiedener von der kommunistischen
Partei beeinflußter Zeitungen und Zeit¬
schriften tätig, u.a. bei der “Volksillus¬
trierten” und der von F.C. Weiskopf ge¬
leiteten “ALZ”. 1939 floh er über Polen
nach England, verließ 1939 nach dem
Hitler-Stalin Pakt die KP und diente
1940-45 als Freiwilliger in der tschecho¬
slowakischen Auslandsarmee. Sein
Bruder Kurt wurde in Prag von den
Nazis hingerichtet. 1946-75 war er poli¬
tischer Kommentator und Scriptwriter
im deutschsprachigen Dienst der BBC.
Fritz Beer ist Präsident des PE.N.-Zen¬
trums deutschsprachiger Schriftsteller
im Ausland. Er lebt in London.

Von ihm erschienen u.a. die Bücher:
Schwarze Koffer (Erzählungen, 1934),
Das Haus an der Brücke (Erzählungen,
1949), Die Zukunft funktioniert noch
nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei
(1969).

Im April 1992 ist erschienen:

Hast du auf Deutsche geschossen,
Grandpa? Fragmente einer Lebensge¬
schichte. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag
1992. 576 S. (Reihe “Schicksale im 20.
Jahrhundert”).

Diese hervorragend recherchierte Au¬
tobiographie gibt einen sehr guten Ein¬
blick in die Verhältnisse in der mähri¬