schen Hauptstadt Brünn der 20er Jahre,
in das politische und kulturelle Leben
Prags der 30er Jahre. Trotz der großen
Zahl von Personen, mit denen Beer in
Kontakt kam, ist es doch eine lange,
einsame Jugend in Brünn und Prag, die
er uns schildert. Aus assimilierter, eini¬
germaßen wohlhabender jüdischer
Familie stammend, erfährt er doch, daß
die Eltern ihn nicht bewahren können
vor Antisemitismus und nationalem
Haß. Früh entwickelte sich seine Sensi¬
bilität für soziale Ungerechtigkeit. Aus
dieser Verlassenheit, in der er sich bei
aller Geborgenheit fand, heraus, schloß
ersich den tschechischen Kommunisten
an. Die selbstkritische Darstellung
seiner KP-Erfahrung (mit all ihren Ab¬
surditäten, Triumphen und bitteren
Streitigkeiten) ist exemplarisch, bietet
Anschauungsmaterial von seltener
Dichte und Prägnanz.
Beer schildert Wohnungen, Arbeitsräu¬
me und Menschen sehr konkret. Die Le¬
bensbedingungen bleiben immer
präsent. Von den vielen menschlichen
Begegnungen, die ihn prägten, ist die
mit Milena Jesenskä, die sich schon seit
den Moskauer Prozessen von der KP
gelöst hatte, besonders ergreifend. Ein
letztes Mal traf er sie in Prag in der
Straßenbahn und sie riet ihm, das Land
zu verlassen, deutscher Jude, dessen
Aussprache ihn immer als Nicht-Tsche¬
chen verraten werde. Sie trug schon
damals als trotzige Geste den Juden¬
stern. “Aber ich”, sagte sie ihm, “kann
bis zum letzten Augenblick den Mund
aufmachen und laut schreien, was die
Wahrheit ist.”
Beers Autobiographie ist die eines Exi¬
lierten, eines Menschen mit mehrfach
gebrochener Identität. Er will mit
seinen Erinnerungen nicht kitten, was
zerbrochen ist, bloß zeigen, wie es dazu
gekommen ist. - Das Buch läßt den
Leser nicht leicht los. K.K.
wie der Pole Joseph Conrad, der Elsässer Rene Schickele, der Russe Wladimir
Nabokov, der Ungar Arthur Köstler, der Ire Samuel Beckett. Auf alle anderen
trifft zu, was den frühzeitig gealterten Hemingway zum Selbstmord trieb: ’die
Worte kommen nicht mehr’. Das ist der Fluch des Exils: die Worte kommen nicht
mehr, weil man die Muttersprache in ihrer täglichen Entwicklung und Anreiche¬
rung nicht miterlebt, weil man selbst in der bequemsten Wohnung immer in
einem kalten Keller sitzt, weil man, wie sehr man sich auch dagegen wehrt, den
Schatten der Erinnerung nicht ausweichen kann. Kurt Tucholsky und Stefan
Zweig hatten keine Existenzsorgen, als sie sich im Exil das Leben nahmen. Aber
was diesem Sinn gab, ihre Sprache, war im Begriff, an Auszehrung zu sterben.
Sie lebten im reichen Schweden und warmen Brasilien. Aber nur in den Ritzen
der Gesellschaft.
Ich schreibe noch immer das österreichische Deutsch der Dreißigerjahre, in
denen ich aus meinem jugendlichen Loch kroch, um die Welt zu schildern. Ich
dachte, ich würde mithelfen, sie zu verändern, wenn ich die Wahrheit über sie
schrieb. Was ich damals für Wahrheit hielt, war ihre marxistische Interpretation,
mein Wunschbild von der Welt, wie sie sein sollte. Alles andere hielt ich für
Verrat an der humanistischen Orientierung, der ich mich verpflichtet fühlte.
Nach den Moskauer Prozessen, dem Münchner Abkommen, dem Stalin-Hitler¬
Pakt und dem Zusammenbruch Frankreichs lag mein Weltbild in Trümmern. Als
ich, ein versprengter tschechischer Soldat, vor dem deutschen Vormarsch nach
dem Süden floh, motivierte mich nur der biologische Erhaltungstrieb, ich müßte
am Leben bleiben, für die Frau, die ich in London zurückgelassen hatte, für ein
Kind, das wir haben wollten. Sonst gab es nichts, keinen Traum, keine Hoffnung,
ganz sicher keinen Glauben an die Macht des Wortes. Ein Buchhändler in
Narbonne, bei dem ich vergeblich versuchte, eine Landkarte des Grenzgebietes
zu finden, um über die Pyrenäen nach Spanien zu fliehen, meinte, alles, was wir
jetzt erlebten, die Fäulnis im Establishment, die Dekadenz des Militärs, die
Verwirrung in den Menschen, sei schon bei Balzac zu lesen. Mit seiner genialen
und schonungslos der Wahrheit ergebenen Schilderung der französischen Ge¬
sellschaft sei er ihr erfolgreichster Kritiker und Interpret gewesen.
Ich kann nicht beurteilen, ob das zutrifft. Aber ich weiß heute, daß es jenseits
von Unterhaltungsliteratur, die ihre eigene Legitimität besitzt, für den Schrift¬
steller keine andere Verpflichtung geben kann, als die Wahrheit zu suchen. Sie
ist revolutionär, wo Revolution notwendig, und konservativ, wo Bedrohtes er¬
haltenswert ist. Als deutsch schreibende Schriftsteller im Exil waren wir u.a.
verpflichtet, die ganze Wahrheit über das Dritte Reich zu schreiben, sowohl an
die Existenz des ’Anderen Deutschland’ zu erinnern wie an die historische
Verstrickung einer ganzen Nation im Bösen. Ich fürchte, daß uns das aus vielen
Gründen nicht gelungen ist. Aber vielleicht bin ich für so ein Urteil nicht genug
belesen.
Gibt es den ’groBen Emigrationsroman’, der unsere Hoffnungen und Enttäu¬
schungen, unsere Verzweiflung und Entfremdung schildert, der sich über unsere
kleinen und manchmal auch großen Erfolge, unsere Zerstrittenheit, unsere
existentielle und weltanschauliche Unsicherheit hinaushebt und in unseren
Schicksalen ein Spiegelbild der durch den Krieg zerrissenen Welt malt, das große
Panorama der in ihren Grundlagen erschütterten und nie mehr wieder zuver¬
sichtlichen Gewißheiten zeichnet, die uns eine ’heile Welt’ vortäuschen?
Ich jedenfalls habe dies oft versucht und mit der zunehmenden Komplexität des
Beginnens, an der mein Rüstzeug versagen mußte, aufgegeben. Mein Wort war
also nicht mächtig. Wenn ich nicht gerade von der Melancholie dieser Erkenntnis
bedrückt werde, gewinne ich Kraft aus dem Gedanken, daß es ein paar Men¬
schen gibt, die ich als Schreiber, Rundfunksprecher und Journalist mit meinem
kleinen Wort erreichte. Vielleicht hat es sie amüsiert, ihnen einen Tropfen
Zuversicht gegeben, sie für einen kurzen Augenblick aufgerichtet, durch Zu¬
spruch, Verständnis, ein Lachen oder auch nur einen trotz meiner Geborgenheit
in London mitempfundenen Zweifel. An den himmelsstürmenden Hoffnungen
meiner Jugend gemessen ist das nicht viel. Es ist mehr, als ich in Hinblick auf die
Wolfsfallen auf meinem langen Lebensweg erwarten durfte.