spruchslosigkeit““, mit der sie viele Entwicklungen hinnimmt und sich auf
wechselnde Situationen einstellt, befähigt sie zu der besonderen Haltung, zu
jener weltbürgerlichen Pragmatik nämlich, die sie davor bewahrt hat, Exil als
Verbannung oder schicksalhafte Entwurzelung zu erleiden. Sie hat ihr Leben
gelebt, wie sie sagt, hat sich nicht den Gesetzen des Ghettos ergeben, sondern
immer wieder neue Möglichkeiten nationaler Grenzüberschreitung entdeckt
und wahrgenommen. Die heute 85jährige, die zurückgezogen in einer kleinen
Dachwohnung in München-Schwabing lebt, reflektiert Exil bemerkenswert un¬
sentimental und - immer noch - anspruchslos.
Ruth Körner, d. i. Elisabeth Schwarz, wurde am 16. Mai 1908 in Wien geboren,
wo sie auch ihre Kindheit verbrachte. Dann lebte sie einige Jahre in Hamburg
und stand u. a. im Thalia-Theater auf der Bühne. 1927 nahm sie ein Studium an
der Hochschule für Politik in Berlin auf und schrieb in den folgenden Jahren
einige Reiseberichte aus dem Nahen und Mittleren Osten, die im „Berliner
Börsencourier“ und im „Berliner Tageblatt“ erschienen. Die politischen Ereig¬
nisse des Jahres 1933 machen einen Hochschulabschluß unmöglich. Aus „rassi¬
schen Gründen“ muß sie als Jüdin und auch als entschiedene Gegnerin des
faschistischen Regimes Deutschland verlassen.” Sie geht zunächst nach Wien
zurück.
1934 nimmt sie auf Einladung Johannes R. Bechers am I. Allunionskongreß der
Schriftsteller in Moskau teil, wo sie auch Ernst Toller begegnet, mit dem sie
befreundet war. Als Ergebnis einer Jahresreise durch Indien erscheint 1937 ihre
aufsehenerregende Reisereportage „Fieberndes Indien“ in der Büchergilde Gu¬
tenberg und beim Saturnverlag Wien. Das Buch brachte ihr den Ruhm ein, ,,der
weibliche Egon Erwin Kisch“ zu sein. © Zahlreiche internationale Rezensionen
bescheinigen dieser tiefschürfenden Sozialstudie der indischen Gesellschaft Er¬
lebniskraft und heben die anklagende Sicht auf die englische Kolonialherrschaft
hervor. „Wer Ruth Körners darstellerisch, sachlich, statistisch ausgezeichnete,
Hindostan gerecht von allen Seiten schildernde Indienfibel ausgelesen hat“,
heißt es in der Pariser Tageszeitung vom 10. September 1937, „weiß, daß von
England für Indien nichts zu erwarten ist außer Konservierung der rechtlosen
Unwissenheit und des hilflosen Aberglaubens des Volkes.“ „Der Bund“, Bern,
lobt das reich illustrierte Buch als „ein Nachschlagewerk über Indien, wie es kein
zweites gibt“, weist aber zugleich auch auf die Gefahren hin, die „die Exklusivität
von unten“ mit sich bringt, die die Autorin beseelt. Es wird die Verwunderung
ausgesprochen, daß der englische Intelligence Service die Reporterin ein Jahr
lang so ungehindert eindringen, enthüllen, photographieren und konspirieren
ließ.
So ist das Buch ein wichtiger Beitrag zum Kampf um soziale Gerechtigkeit. Die
darin geschilderten Begegnungen mit Kamala Nehru, der Frau Jawaharlals, der
damals gerade im Gefängnis war, und mit Rabindranath Tagore in Santiniketan
gestalteten sich zu Höhepunkten der Indienreise Ruth Körners und ihrer ebenso
sachlichen wie einfühlsamen Schilderung.
Mit Brief vom 11. Mai 1938 an Rudolf Olden, den damaligen Sekretär der
deutschen Gruppe des PEN-Klubs in London, bittet Ruth Körner von Prag aus,
wo sie von April bis Oktober 1938 im Exil lebt, um Aufnahme in den PEN-Klub.
Besorgt, den Mitgliedsbeitrag nicht bezahlen zu können, teilt sie mit: „Ich mußte
mein ganzes Hab und Gut in Wien zurücklassen und kam mit hundert Tsche¬
chenkronen Barvermögen über die Grenze...“ Sie bekundet ihr reges Interesse,
an dem im Juni in Prag stattfindenden PEN-Kongreß teilnehmen zu dürfen und
regt an, „alle aus Österreich vertriebenen ‚Autoren — auch wenn sie keine
Mitglieder des PEN-Klubs sind - geschlossen zu dem Kongreß einzuladen“. Sie
fährt fort: „Allein in Prag halten sich viele prominente Schriftsteller aus Wien
auf, darunter Frau H. zur Mühlen, Herr R. Duschinsky u.a. Da dieses Jahr der
deutsche Geist, die deutsche Kunst ausnahmslos durch Emigranten vertreten
werden wird, wäre es schade, die Österreicher aus dieser internationalen kultu¬
rellen Front, und sei es auch vereinzelt, auszuschließen.“
Rudolf Olden rät ihr, „sich darum zu bemühen, daß möglichst bald eine öster¬
reichische Emigranten-Gruppe den früheren österreichischen Club fortsetzt“.