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Gertrud Kolmar (1894-1943), 1928.
Foto aus dem Schiller¬
Nationalmuseum Marbach am Neckar

Gescheiterte Flucht

Etwa 1000 österreichische Jüdinnen und
Juden verließen im Jahr 1939 Wien, um
über Bratislava auf der Donau Richtung
Palästina zw. flüchten. Durch ungünsti¬
ge Umstände und Fehler in der Organ¬
siation des Transportes blieben die
Flüchtenden im jugoslawischen Donau¬
hafen Kladovo stecken. Sie wurden von
den Nazis eingeholt, die Männer des
Transportes wurden im Oktober 1941
als „Geiseln“ erschossen, die Frauen
und Kinder in einem umgebauten LKW
mit Gas ermordet. Nur wenig mehr als
200 Jugendliche hatten rechtzeitig
vorher ihre Flucht fortgesetzt.

Mit ihnen sprachen die Autoren des
Buches, Gabriele Anderl und Walter
Manoschek, in Israel, von ihnen hatten
sie auch authentische Fotos bekommen.
Brisant an der minutiösen Rekonstruk¬
tion des Transportes ist die Tatsache,
daß sowohl der Kommandant, der die
Erschießungen angeordnet hatte, als
auch viele beteiligte Wehrmachtsange¬
hörige Österreicher waren.

Gabriele Anderl / Walter Manoschek:
Gescheiterte Flucht. Der jüdische
Kladovo-Transport auf dem Weg nach
Palästina 1939-1942. Wien, Verlag für
Gesellschaftskritik 1993. 315 S., 6S 298,-.

Angelika Jakob
Gertrud Kolmar - ein Leben im Ölberg

Ich stieß auf Gertrud Kolmar im Zuge germanistischer Studien über Frauenlyrik,
als ihr Werk noch nicht so umfangreich ediert war. Mein heutiges Bild von ihr ist
vielfältiger und zugleich rätselhafter.

Kolmar ist ein Pseudonym. 1917 gewählt, als ihr Vater frühe Verse als Weih¬
nachtsgabe für sie drucken ließ: die deutsche Form ihres bürgerlichen Namens
Chodziesner. Er stammt von dem deutsch-polnischen Grenzstädtchen Chodziez,
aus dem Vorfahren der Familie kamen. Die Nürnberger Gesetze zwangen ihr
diesen Namen wieder auf; das Brandmal ‚Sarah‘, das sie als Jüdin kennzeichnete,
wurde den Vornamen Gertrud und Käthe hinzugefügt.

Sie wurde am 10. Dezember 1894 als Tochter wohlhabender Eltern in Berlin
geboren; blieb seit ihrer Verschleppung aus Berlin im Frühjahr 1943 verschollen;
wurde am 3. März 1953 von den bundesdeutschen Behörden für tot erklärt.

Hören wir einige ihrer Texte, zum Teil in Auszügen:

Zueignung

Sie nahm den Silberstift

Und hieß ihn hingehn über die weiße matt glänzende Fläche:

Ihr Land. Er zog

Und schuf Berge.

Kahle Berge, nackte kantig steinerne Gipfelstirnen, über Öde sinnend;
Ihre Leiber (...) vergingen hinter dem bleichen Gespenst

Einer Wolke.

Sie hing das Bild vor dem schwarzen Grunde, und Menschen sahen es an.

Und Menschen sprachen:

„Wo ist Duft? Wo ist Saft, gesättigter Schimmer?

Wo das strotzende, kraftvoll springende Grün der Ebenen

Und der Klippe bräunlich verbranntes Rot oder ihr taubes graues Düster?

Kein spähender Falke rüttelt, hier flötet kein Hirt.

Nie tönen groß in milderes Abendblau die schön geschwungenen Hörner wilder
Ziegen.

Farbenlos, wesenlos ist dies, ohne Stimme; es redet zu uns nicht.

Kommt weiter.“

Sie aber stand und schwieg.

(...)
Nun eines ihrer Stadtwappengedichte, das

Wappen von Allenburg
(Es zeigt ein rotes Elchhaupt auf Silbergrund, aus grünem Röhricht steigend.)

Ich geh durch Erde, die schon nicht mehr ist;
Denn meine Erde ist nur Teil von mir

Wie ich mit Schaufel, Haupt und Widerrist
Ein blédes, grauses, ungeschlachtes Tier.

Sie klatscht um meine Kniee als ein Sumpf,
Hängt von der trägen Lippe als ein Schlamm,
Hockt Nebelschlange, feucht am roten Rumpf,
Schiebt unters Maul den flechtenblassen Stamm.

Ich bin, die war, die ferngestorbne Zeit,
Die wüst im großen Wäldermoor gehaust.
In tiefe Flocken Wölfe hingeschneit,

Mit dunklem Sturm den Uhu hergebraust.