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28 Renate Göllner Die Jugend der Ruth Klüger „Heute gibt es Leute, die mich fragen: ‚Aber Sie waren doch viel zu jung, um sich an diese schreckliche Zeit erinnern zu können...‘ Ich denke dann, die wollen mir mein Leben nehmen, denn das Leben ist doch nur die verbrachte Zeit, das einzige, was wir haben, das machen sie mir streitig, wenn sie mir das Recht auf Erinnern in Frage stellen.“ Ruth Klüger klagt das Recht auf Erinnerung ein. Sich Erinnern als Überlebensstrategie; weiter leben ist ein Buch, das, ebenso wie Anna Seghers’ einzige autobiographische Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“, nach einem schweren Unfall, in dessen Folge auch das Gedächtnis der Autorin arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, entstanden ist. Rückblickend sich ihrer selbst zu vergewissern war gleichsam auch Teil des Genesungsprozeßes. Insofern ist weiter leben auch der geglückte Versuch, diese Krankheit literarisch zu bewältigen. Die Lebensgeschichte der Ruth Klüger beginnt im Wien des Jahres 1931 und endet nur durch Zufall nicht in den Gaskammern von Auschwitz, sondern — vorläufig — an einer Universität in Irvine, in Kalifornien, wo sie Literaturwissenschaften unterrichtet. „Emanzipiert“, aber nicht „assimiliert“ war die Familie, in die Ruth Klüger sieben Jahre vor der Okkupation Österreichs durch die Faschisten hineingeboren wurde. Früh schon war der wiener Antisemitismus dieser „judenkinderfeindlichen“ Stadt zur prägenden, allumfassenden Erfahrung des kleinen Mädchens geworden. Was für andere Kinder ihres Alters selbstverständlich war, ist schließlich für sie als Jüdin nach dem März °38 verboten: ins Dianabad schwimmen gehen, im Urania-Kino Filme ansehen. Das Kinderleben wird zum Gefängnis; verstoßen aus der Gemeinschaft Gleichaltriger entwickelt sie eine Art Lesesucht, schreibt Gedichte und spielt Schach. Sie wird aus Protest und aus Abwehr bewußte Jüdin, legt ihren Rufnamen Susi ab und nennt sich fortan Ruth. „Die Selbstverachtung der Juden war nichts für mich“, konstatiert sie trocken und: „ich kann nicht sagen, daß ich ihn ungern getragen habe, den Judenstern. Unter den Umständen schien er angebracht. Wenn schon, denn schon.“ „Wenn man als Jude angegriffen wird, so hat man sich als Jude zu verteidigen“, hat Hannah Arendt einmal geschrieben. Erinnerungen bar jeglicher Sentimentalität: Ruth Klüger hält sich die Leser vom Leib, erzählt so distanziert und lakonisch, daß falsche Trauer, gar entlastendes Mitgefühl erst gar nicht aufkommen können; immer aus der Perspektive des Kindes berichtend, freilich ohne ihre Reflexionen auszusparen; Reflexionen der Erwachsenen, die sich erstaunlich bruchlos in ihre Kindheitserinnerungen einreihen. Ohnehin hatte man dieses kleine Geschöpf seiner Kindheit beraubt, zu früh war es gezwungen worden, erwachsen zu werden. Beispielhaft steht dieses Schicksal für Tausende jüdische Kinder. Neun Jahre ist Ruth Klüger, als der Vater 1940 wegen illegal durchgeführter Abtreibungen zuerst verhaftet und später ausgewiesen wird. Anstatt aber selbst zu flüchten, bleiben Mutter, Tochter und Großmutter in Wien, hoffend, irgendwie durchzukommen. Von da an verbringt Ruth Klüger ihr Leben unter Frauen. Männer spielen nur mehr am Rande eine Rolle. weiter leben ist auch ein feministisches Buch, eine Rarität in der einschlägigen antifaschistischen Literatur. Es ist vor allem die Sprache der Ruth Klüger, in der die Abwesenheit von Männern sich bemerkbar macht. Ein männliches Vorbild — abgesehen von dem kleinen Stiefbruder - hat es in ihrem Leben nie gegeben. An Selbstbewußtsein mag es vielleicht gemangelt haben, an Stolz und Widerspruch aber nie. Früh schon hatte sie die Ungerechtigkeit geschlechtsspezifischer Rollenaufteilung empört. Von den jüdischen Feiertagen erzählt Ruth Klüger, an denen „die Tanten schwitzend und schlecht aufgelegt den ganzen Tag kochend in der Küche“ schufteten, von der untergeordneten Rolle der Frau im Judentum. „Nicht Sabbatkerzen anzünden“ wollte sie , sondern den Kaddisch, das Totengebet sprechen, ein Ritual, das allein den Männer vorbehalten ist. „Wenn das nicht geht“, dann bleibt sie schon lieber bei ihren Gedichten. Erzogen aber wurde sie ganz anders. Von einer Mutter, die ihr zwar erklärte, daß Frauen sich von Männern versorgen lassen müßten, die aber selbst mit ihrer Hände Arbeit die gesamte Familie durchbrachte. Erstaunlich, mit welcher Schärfe sich Ruth Klüger die Widersprüchlichkeit ihrer Mutter und ihre eigene ambivalente Beziehung zu ihr ins Gedächtnis ruft, wie präzise und schonungslos offen sie davon berichtet: Von einer Mutter, die der Tochter einen gemeinsamen Selbstmord vorschlug, die aber nur wenige Zeit später, noch immer im KZ, ein Mädchen adoptierte, es vor selischer Verwahrlosung bewahrte und auch in den ersten Nachkriegsjahren ganz selbstverständlich mit aufzog. Es handelt sich offenbar um eine jener Mütter, die Feministinnen gemeinhin für meschugge erklären, weil sie partout nicht verstehen können, wofür diese kämpfen. Ruth Klüger verweigert ihr nicht den Respekt, aber sie kann an ihr auch verzweifeln, weilsieihr Leben lang der Tochter, und zwar aus Prinzip, jedwede Anerkennung versagt. „Von dem was ich im Leben versucht hab zu sein oder zu leisten, läßt sie nur meine beiden Söhne gelten, die beide kein Deutsch können“. Bei einer Tochter, die eine angesehene Literaturwissenschafilerin ist, gewiß eine bemerkenswerte Leistung. Im Gegensatz zu manch anderen Autobiographien, die über die Zeit der Verfolgung berichten, wirkt Ruth Klügers Buch ‚gegenwärtiger‘ und moderner; und dies liegt, wie ich glaube, auch an ihrem autonomen weiblichen Standort, von dem aus sie in die Vergangenheit blickt. Er liegt in der nordamerikanischen Gesellschaft der frühen neunziger Jahre. So wird der große Abstand spürbar und dennoch Vergangenheit unmittelbar gegenwärtig. Seit den fünfziger Jahren lebt Ruth Klüger in Amerika, in Südkalifornien, wo „die Vergangenheit höchstens ein Maskenball vor einer Hollywoodkulisse ist, wo allein die Kostüme immer richtig sind und sonst nichts stimmt“; vielleicht läßt sich mit dem intellektuellen Milieu der amerikanischen Gesellschaft ihr unorthodoxer, oft ketzerischer Ton erklä