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Renate Göllner

Die Jugend der Ruth Klüger

„Heute gibt es Leute, die mich fragen:
‚Aber Sie waren doch viel zu jung, um
sich an diese schreckliche Zeit erinnern
zu können...‘ Ich denke dann, die wollen
mir mein Leben nehmen, denn das
Leben ist doch nur die verbrachte Zeit,
das einzige, was wir haben, das machen
sie mir streitig, wenn sie mir das Recht
auf Erinnern in Frage stellen.“

Ruth Klüger klagt das Recht auf Erinne¬
rung ein. Sich Erinnern als Überlebens¬
strategie; weiter leben ist ein Buch, das,
ebenso wie Anna Seghers’ einzige auto¬
biographische Erzählung „Der Ausflug
der toten Mädchen“, nach einem schwe¬
ren Unfall, in dessen Folge auch das Ge¬
dächtnis der Autorin arg in Mitleiden¬
schaft gezogen worden war, entstanden
ist. Rückblickend sich ihrer selbst zu ver¬
gewissern war gleichsam auch Teil des
Genesungsprozeßes. Insofern ist weiter
leben auch der geglückte Versuch, diese
Krankheit literarisch zu bewältigen.

Die Lebensgeschichte der Ruth Klüger
beginnt im Wien des Jahres 1931 und
endet nur durch Zufall nicht in den Gas¬
kammern von Auschwitz, sondern —
vorläufig — an einer Universität in
Irvine, in Kalifornien, wo sie Literatur¬
wissenschaften unterrichtet.

„Emanzipiert“, aber nicht „assimiliert“
war die Familie, in die Ruth Klüger
sieben Jahre vor der Okkupation Öster¬
reichs durch die Faschisten hineingebo¬
ren wurde. Früh schon war der wiener
Antisemitismus dieser „judenkinder¬
feindlichen“ Stadt zur prägenden, allum¬
fassenden Erfahrung des kleinen Mäd¬
chens geworden. Was für andere Kinder
ihres Alters selbstverständlich war, ist
schließlich für sie als Jüdin nach dem
März °38 verboten: ins Dianabad
schwimmen gehen, im Urania-Kino
Filme ansehen. Das Kinderleben wird
zum Gefängnis; verstoßen aus der Ge¬
meinschaft Gleichaltriger entwickelt sie
eine Art Lesesucht, schreibt Gedichte
und spielt Schach. Sie wird aus Protest
und aus Abwehr bewußte Jüdin, legt
ihren Rufnamen Susi ab und nennt sich
fortan Ruth. „Die Selbstverachtung der
Juden war nichts für mich“, konstatiert

sie trocken und: „ich kann nicht sagen,
daß ich ihn ungern getragen habe, den
Judenstern. Unter den Umständen schien
er angebracht. Wenn schon, denn schon.“
„Wenn man als Jude angegriffen wird, so
hat man sich als Jude zu verteidigen“, hat
Hannah Arendt einmal geschrieben.
Erinnerungen bar jeglicher Sentimenta¬
lität: Ruth Klüger hält sich die Leser vom
Leib, erzählt so distanziert und lako¬
nisch, daß falsche Trauer, gar entlasten¬
des Mitgefühl erst gar nicht aufkommen
können; immer aus der Perspektive des
Kindes berichtend, freilich ohne ihre Re¬
flexionen auszusparen; Reflexionen der
Erwachsenen, die sich erstaunlich bruch¬
los in ihre Kindheitserinnerungen einrei¬
hen. Ohnehin hatte man dieses kleine
Geschöpf seiner Kindheit beraubt, zu früh
war es gezwungen worden, erwachsen zu
werden. Beispielhaft steht dieses Schick¬
sal für Tausende jüdische Kinder.

Neun Jahre ist Ruth Klüger, als der
Vater 1940 wegen illegal durchgeführter
Abtreibungen zuerst verhaftet und
später ausgewiesen wird. Anstatt aber
selbst zu flüchten, bleiben Mutter,
Tochter und Großmutter in Wien,
hoffend, irgendwie durchzukommen.
Von da an verbringt Ruth Klüger ihr
Leben unter Frauen. Männer spielen
nur mehr am Rande eine Rolle.

weiter leben ist auch ein feministisches
Buch, eine Rarität in der einschlägigen
antifaschistischen Literatur. Es ist vor
allem die Sprache der Ruth Klüger, in
der die Abwesenheit von Männern sich
bemerkbar macht. Ein männliches
Vorbild — abgesehen von dem kleinen
Stiefbruder - hat es in ihrem Leben nie
gegeben. An Selbstbewußtsein mag es
vielleicht gemangelt haben, an Stolz und
Widerspruch aber nie.

Früh schon hatte sie die Ungerechtig¬
keit geschlechtsspezifischer Rollenauf¬
teilung empört. Von den jüdischen Fei¬
ertagen erzählt Ruth Klüger, an denen
„die Tanten schwitzend und schlecht
aufgelegt den ganzen Tag kochend in
der Küche“ schufteten, von der unterge¬
ordneten Rolle der Frau im Judentum.
„Nicht Sabbatkerzen anzünden“ wollte

sie , sondern den Kaddisch, das Toten¬
gebet sprechen, ein Ritual, das allein
den Männer vorbehalten ist. „Wenn das
nicht geht“, dann bleibt sie schon lieber
bei ihren Gedichten.

Erzogen aber wurde sie ganz anders.
Von einer Mutter, die ihr zwar erklärte,
daß Frauen sich von Männern versorgen
lassen müßten, die aber selbst mit ihrer
Hände Arbeit die gesamte Familie
durchbrachte. Erstaunlich, mit welcher
Schärfe sich Ruth Klüger die Wider¬
sprüchlichkeit ihrer Mutter und ihre
eigene ambivalente Beziehung zu ihr ins
Gedächtnis ruft, wie präzise und scho¬
nungslos offen sie davon berichtet: Von
einer Mutter, die der Tochter einen ge¬
meinsamen Selbstmord vorschlug, die
aber nur wenige Zeit später, noch immer
im KZ, ein Mädchen adoptierte, es vor
selischer Verwahrlosung bewahrte und
auch in den ersten Nachkriegsjahren
ganz selbstverständlich mit aufzog. Es
handelt sich offenbar um eine jener
Mütter, die Feministinnen gemeinhin
für meschugge erklären, weil sie partout
nicht verstehen können, wofür diese
kämpfen. Ruth Klüger verweigert ihr
nicht den Respekt, aber sie kann an ihr
auch verzweifeln, weilsieihr Leben lang
der Tochter, und zwar aus Prinzip, jed¬
wede Anerkennung versagt. „Von dem
was ich im Leben versucht hab zu sein
oder zu leisten, läßt sie nur meine beiden
Söhne gelten, die beide kein Deutsch
können“. Bei einer Tochter, die eine an¬
gesehene Literaturwissenschafilerin ist,
gewiß eine bemerkenswerte Leistung.
Im Gegensatz zu manch anderen Auto¬
biographien, die über die Zeit der Ver¬
folgung berichten, wirkt Ruth Klügers
Buch ‚gegenwärtiger‘ und moderner;
und dies liegt, wie ich glaube, auch an
ihrem autonomen weiblichen Standort,
von dem aus sie in die Vergangenheit
blickt. Er liegt in der nordamerikani¬
schen Gesellschaft der frühen neunziger
Jahre. So wird der große Abstand
spürbar und dennoch Vergangenheit
unmittelbar gegenwärtig.

Seit den fünfziger Jahren lebt Ruth
Klüger in Amerika, in Südkalifornien,
wo „die Vergangenheit höchstens ein
Maskenball vor einer Hollywoodkulisse
ist, wo allein die Kostüme immer richtig
sind und sonst nichts stimmt“; vielleicht
läßt sich mit dem intellektuellen Milieu
der amerikanischen Gesellschaft ihr un¬
orthodoxer, oft ketzerischer Ton erklä¬