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24 rade unter der Intelligenz gab es eine Unzahl solcher sogenannter Assimilierter, ‘Vollblutjuden’, halbe und viertel Mischlinge, vollständig verwachsen mit dem österreichischen Kulturgut, an dessen Pflege und Wachstum sie während der vergangenen Jahrzehnte erheblich beteiligt waren, die nicht imstande waren, anders zu fühlen und zu denken als eben österreichisch. Man darf sich nicht vorstellen, daß österreichisch fühlen und denken gleichzusetzen war mit monarchistisch fühlen und denken. Man erinnere sich nur des Antagonismus eines Karl Kraus und Stefan Zweig oder auch vieler Vertreter der österreichischen Sozialdemokratischen Partei wie Victor Adlers, des Begründers der ’Arbeiterzeitung’. Zu dieser Art österreichisch, allzu österreichisch gewordener jüdischer Menschen gehörte meine Familie.'' Als in Wien die große Massenflucht einsetzte und das Rothschild-Palais auf der Prinz Eugen-Straße beschlagnahmt und als Paßamt eingerichtet worden war, wo sich täglich schreckliche Szenen abspielten, war Auguste Lazar klar, daß sie ihre Ausreise über Dresden betreiben mußte. Durch Käte Dunckers Vermittlung hatte sie in London bei Miss Penelope Hopkins eine Stelle als Köchin in Aussicht. ‚‚Nach Weihnachten“, so berichtet sie, ‚fuhr ich nach Dresden zurück. Da ich keine eigene Wohnung mehr hatte, nahm ich ein möbliertes Zimmer. ... Ich hatte richtig gehandelt, nicht von Wien aus auszuwandern. In Dresden ging alles verhältnismäßig einfach ab. Zwar dauerte es noch viele Wochen, bis ich das *permit’, das mir Miss Penelope Hopkins beschafft hatte, wirklich ausgefolgt bekam und bis ich meinen neuen Paß, in den ein großes J eingedruckt war und in dem ich Augusta Wilhelmina Sarah hieß, in der Hand hielt. ... ”Cook’ stand als Berufin dem *permit’, das ich eben vom britischen Konsulat geholt hatte. Cook bei Miss Penelope Hopkins, House on the Hill, near Brighton, Sussex. ... Eingestempelt auf dem Umschlag des Fahrscheinheftes ist der erste Geltungstag: 26.4.39. Abgereist bin ich eine Woche später, am 5. Mai mit dem Nachtschnellzug, der über Hannover nach Holland ging.“ '? In Wahrheit war alles viel gefährlicher und schwieriger. Auch im englischen Exil blieben ihr Bedrohungen und Schicksalsschläge nicht erspart. Es war Krieg. Dünkirchen und Paris waren bereits gefallen. Im Juni 1940 erließ die englische Regierung den Befehl, daß der ganze Süden von England innerhalb vierundzwanzig Stunden von allen Fremden geräumt sein mußte. Alle Einsprüche Miss Hopkins’ nützten nichts. Auguste Lazar mußte das Haus verlassen und nach London zurück. Nun begann für sie eine sehr schwere Zeit der Not und der Arbeitslosigkeit. Sie erhielt nur eine geringfügige Unterstützung, weniger als ein Pfund pro Woche. Ständig drohte die Gefahr, interniert zu werden. Arbeit zu haben, war der einzige Schutz. Auguste Lazar nahm, was sich bot. Sie war Aushilfsköchin, Kindermädchen, dazwischen wieder für lange Zeit arbeitslos. Und immer diese Bombenangriffe auf London. Sie berichtete: Vielerlei habe ich getrieben. ... Ich habe Handschuhe gehäkelt und für einen tschechischen Fabrikanten Ansteckblumen gemacht, ich habe bunte, glitzernde Glasstückchen in falschen Schmuck geklebt und zwischendurch ein bezauberndes, indisches Baby gehiitet. ... Dann habe ich Einkaufstaschen genetzt und eine Zeitlang mit dem Bemalen elfenbeinfarbiger Haarschleifchen aus irgendeinem Kunststoff sogar wirklich viel Geld verdient. ... Dann fand ich eine Stelle als Schreibmaschinenkraft in einer Firma fiir die Einrichtung von Laboratorien."” Als sie schließlich eine Summe Geldes erspart hatte, daß sie nur noch halbtags zu arbeiten brauchte, begann sie in der Bibliothek des Britischen Museums ihre wissenschaftlichen Studien über die Französische Revolution. 1949 kehrte sie nach Dresden zurück. Zwei ihrer Schwestern waren in Konzentrationslagern ermordet worden. Als freie Schriftstellerin schrieb sie vorwiegend Kinderbücher: 1950 erschien ,,Jan auf der Zille“, eine Jugenderzählung aus dem Jahr 1934; „‚Bootsmann Sibylle“ (1953); „Der neue Däumling‘“ (1954); „Jura in der Leninhütte“ (1960); Die Schreckensherrschaft und das Glück der Anette Martin“ (1961); „Die Brücke von Weißensand“ (1963); Kampf um Kathi“ (1967); ,,Akelei und das Wurzelmännchen‘“ (1970). Für Erwachsene schrieb sie „Schach dem König! Phantastische und nüchterne Bilder aus der französischen Revolution“ (1964,1969) und ,,Arabesken“ (1957, 1977). Ihr Hauptwerk, das Kinderbuch ‚Sally Bleistift in Amerika“, das als Erstling sogleich auch der ganz große Wurf geworden ist, war, wie die Autorin selbst schreibt, „ein Protest gegen meine ganze Vergangenheit, gegen die geistige und politische Haltung der Kreise, aus denen ich kam“..'* Zwischen 1947 und 1970 erreichte das Werk 18 Auflagen. Es wurde ins Tschechische und Italienische übersetzt. Erzählt wird die Geschichte der alten jüdischen Kleiderhändlerin Sally Bleistift. Von Judenpogromen im Jahre 1903 aus ihrer Heimat, Kischinew in Rußland, vertrieben, flüchtet sie nach Amerika. Dort betreut sie ihre Enkelin und nimmt auch den Indianerjungen Redjacket und das Negerbaby John Brown in die Familiengemeinschaft auf. In ihrer warmherzigen Miitterlichkeit, lebendigen und reifen Erfahrenheit und heiteren Lebensbejahung ist die Figur der Sally Bleistift eine bleibende Gestalt der internationalen Kinderliteratur geworden. Auguste Lazar starb am 7. April 1970 in Dresden. Anmerkungen 1 Wilhelm Sternfeld/Eva Tiedemann: Deutsche Exil-Literatur 1933-1945. Eine Bio-Bibliographie. Zweite verbesserte und stark erweiterte Auflage. Mit einem Vorwort von Hanns W. Eppelsheimer. Heidelberg 1970. 2 Auguste Lazar: Arabesken. Aufzeichnungen aus bewegter Zeit. Berlin: Dietz 1957, 6. Aufl. 1968, S. 154. 3 Vgl. zur Biografie von Maria Lazar: Renate Wall: Verbrannt, Verboten, Vergessen. Köln: Pahl-Rugenstein 1988, S. 114-116. 4 Auguste Lazar: Arabesken, S. 161. 5Ebenda , S. 164. 6 Franz Leschnitzer (1905 - 1967), Journalist, vor 1933 Mitarbeiter der ‚‚Weltbühne“, während des Exils in der Sowjetunion Mitarbeiter der ,, Deutschen Zentralzeitung“ in Moskau und anderer Exilzeitschriften, Ubersetzer der Gedichte Majakowskis (1941). 7 Alex Keil, d.i. Sandor Ek (1902 - 1975) ungar. Maler und Grafiker, lebte 1925-1933 im Exil in Deutschland und 1933-1945 in der UdSSR. 8 Auguste Lazar: Arabesken, S. 207-208. 9 Ebenda, S. 235. 10 Ebenda, S. 235-236. 11 Ebenda, S. 236-239. 12 Ebenda, S. 245-247. 13 Ebenda, S. 365ff. 14 Ebenda, S. 84.