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Vladimir Vertlib

Themaverfehlung

Das in vielen Passagen interessante Buch
wird seinem Titel (“ Ist jetzt hier die »wahre
Heimat«? Ostjüdische Einwanderung nach
Wien“) leider nicht gerecht, denn gerade
die ostjüdische Einwanderung kommt oft
überhaupt nicht oder nur am Rande vor.
Auch auf die Frage nach der ,,wahren Hei¬
mat“ ostjüdischer Immigranten findet sich
kaum Antwort. Ein detaillierter Bericht
über die diversen Einwanderungsströme
ostjüdischer Emigranten nach Wien oder
gar genaueres Zahlenmaterial fehlen. Statt¬
dessen ist man mit einer Reihe zum Teil
durchaus interessanter Einzeldarstellungen
zum Thema Judentum konfrontiert, von de¬
nen die meisten auch tatsächlich einen
Wienbezug aufweisen. Wer nicht viel von
Geschichte des Judentums weiß, dem kann
dieses Buch als Einführung empfohlen wer¬
den, denn Begriffe wie „Sephardim“ und
„Aschkenasim“ werden erklärt, Textpro¬
ben des Jiddischen geliefert, so manches
historische Detail aufgezeigt, und am
Schluß erfährt der Leser Essay auch noch
einiges über die Zusammenhänge zwischen
Moderne und Nationalismus und über die
Ursache der Ausgrenzung von Minderhei¬
ten. Doch einige Beiträge sind nur mit gro߬
er Vorsicht zu genießen.

Da das ganze Buch kein homogenes Ganzes
darstellt, müssen die einzelnen Beiträge ge¬
sondert beurteilt werden.

Das Buch beginnt mit einer „Geschichte
der türkisch-spaniolischen Juden im Habs¬
burgerreich“ von Ruth Burstyn, vielleicht
einer der besten Aufsätze des Buches mit
einem sehr interessanten und noch dazu
wenig bekannten Thema. Man kann aber
nur schwer verstehen, daß die Herausgeber
diesem Thema etwa ein Drittel des Buches
gewidmet haben. Denn unter ostjüdischer
Einwanderung nach Wien versteht man
normalerweise nicht die Einwanderung je¬
ner Juden, die, aus Spanien und Portugal
vertrieben, über Zwischenaufenthalte am
Balkan oder in der Türkei nach Wien ge¬
kommen sind. Sie waren keine Ostjuden.
Rein geographisch gesehen hielten sie sich
vor ihrer Einwanderung nach Wien viel¬
leicht in Gebieten auf, die östlich von Wien
liegen. Schwerwiegender scheint, daß einer

kleinen und in ihrer Bedeutung für das Wie¬
ner Judentum nicht allzu wichtigen Gruppe,
die nie mehr als wenige hundert Personen
umfaßte, ein Drittel eines Buches gewidmet
ist, das mit 153 Seiten ohnehin schmal be¬
messen ist. Das Thema der ostjüdischen
Einwanderung allein wäre schon komplex
und vielschichtig genug. Daß eine erschöp¬
fende Darstellung, auch wenn mehr Platz
(und Geld) zur Verfügung steht, nur schwer
möglich ist, versteht sich von selbst, auch
daß man Schwerpunkte setzen muß.
Burstyns Beitrag schildert chronologisch
und genau die Geschichte einer Minderheit
innerhalb einer Minderheit. Menschen, die
als Untertanen des türkischen Sultans eine
Sonderstellung besaßen und lange Zeit (ge¬
genüber anderen Juden) privilegiert waren,
weil sie für Österreich eine ökonomisch
wichtige Funktion hatten. Kultur, Schulwe¬
sen und Ritus dieser Gruppe, ihre
Wohltätigkeitsinstitutionen, ihr Pressewe¬
sen, ihr Kampf um die Autonomie ihrer
Gemeinde. Der Nationalsozialismus zog
auch hier einen Schlußstrich.

Monika Plainers „Kurze Geschichte der
Aschkenasim“ bietet auf acht Seiten einen
sehr guten Überblick. Eingegangen wird
auf den Usprung des Namens ‚Aschkena¬
sim“ (das Wort stammt aus dem Buche
Jeremia und bezog sich auf ein Gebiet zwi¬
schen Armenien und dem oberen Euphrat)
und seine Verwendung im heutigen Sinn
für das deutsche und osteuropäische Juden¬
tum, nachweisbar spätestens ab dem 14.
Jahrhundert. Wir erfahren von wiederhol¬
ten Massakern an Juden in Frankreich und
Deutschland, von deren Flucht nach Osteu¬
ropa, vorwiegend nach Polen, von den An¬
fängen des Jiddischen, von den Grundzü¬
gen des jüdischen Gemeindewesens im pol¬
nischen Staat und dem Zentralorgan der
jüdischen Verwaltung, der ,,Vierlan¬
dersynode“ (hebräisch: Wa’ad arba arzot).
Auch vom ersten „Holocaust“ am Ostju¬
dentum wird berichtet: Bei dem Aufstand
der ukrainischen Kosaken unter Hetman
Bogdan Chmelnicki gegen die polnische
Herrschaft wurden etwa 100.000 Juden nie¬
dergemetzelt. Dann die Judenpolitik des za¬
ristischen Rußland, in dessen Grenzen,

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nach den Teilungen Polens gegen Ende des
18. Jahrhunderts, die meisten asch¬
kenasischen Juden lebten Einschränkun¬
gen, Diskriminierungen, Pogrome führten
schließlich um 1900 zur Massenaus¬
wanderung, vorwiegend in die USA. Hin¬
gewiesen wird auf die in den letzten zwei
bis drei Jahrhunderten entstandenen
religiösen Strömungen, den Frankismus,
den Chassidismus (und dessen Weiter¬
entwicklung und spezifische Ausprägung
als ,,Zaddikismus“) und das Reform¬
judentum. Einige knappe Bemerkungen zu
den Unterschieden zwischen ,,Aschkena¬
sim“ und ,,Sephardim“ un deren ungleiche
gesellschaftliche Stellung im Staate Israel
schließen den instruktiven Artikel ab.

Eine Anregung nur: Vielleicht sollte man
ausführliche Zitate aus englischsprachigen
Büchern doch zumindest im Anmerkungs¬
teil auch in deutscher Übersetzung wieder¬
geben.

“Der ostjüdische Einfluß auf Wien“ von
Evelyn Adunka ist „zum Thema“, und
zwar mehr als alle anderen Artikel zusam¬
men. Schade, daß dieser Autorin im Buch
nicht mehr Platz eingeräumt wurde! Den¬
noch gelingt es der Autorin, die ostjüdische
Einwanderung vom Beginn des vorigen
Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegen¬
wart nachzuzeichnen, wenn auch manche
Passagen, zum Beispiel die über die jüdi¬
sche Einwanderung aus der ehemaligen So¬
wjetunion, denkbar lapidar ausfallen mu߬
ten. Endlich erhalten wir ein zumindest ru¬
dimentäres Zahlenmaterial, erfahren, wie
die Wiener jüdische Bevölkerung, haupt¬
sächlich durch Zuwanderung aus dem
Osten, zunahm, um schließlich während
des 1. Weltkrieges mit den Kriegsflüchtlin¬
gen aus Galizien einen Höchststand zu er¬
reichen. Manch aufschlußreiches Detail
und Zitat führt die Welt der Kriegsflücht¬
linge und ihr Elend in Wien lebensnah vor.
Gewürdigt wird das Fürsorgewesen der
Kultusgemeinde. Adunka beschreibt einige
wichtige ostjüdische Persönlichkeiten, geht
kurz auf die kulturellen Leistungen der ga¬
lizischen Einwanderer ein, erwähnt ihr
großes Gewicht in der zionistischen Bewe¬
gung, schildert ihren Einfluß auf die Kul¬
tusgemeinde und reißt schließlich das leidi¬
ge Thema der nichtjüdischen Reaktion auf
diese Immigranten aus dem Osten an, eine
Reaktion, die nur zu oft radikale, antisemi¬
tische Züge annahm. Diese Reaktionsform
setzte sich, was Adunka mit Zitaten belegt,
auch nach dem 2. Weltkrieg fort, und das