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Ich kneife die Zähne zusammen und hoffe,
daß der Mann nichts über meine wahre Mei¬
nung erfährt, über meine Herkunft, meinen
Wohnort. Ein leises Gemurmel hebt an, der
Waggon beginnt zu brodeln, wenn sich
auch keiner der anwesenden Passagiere
mehr in das Gespräch einzumischen ver¬
sucht. Ich beobachte die gierigen, neugieri¬
gen Gesichter unserer Mitreisenden, sehe
den sensationslüsternen Glanz in ihren Au¬
gen. Ob es wohl zu einer Rauferei kommen
wird? Sie scheinen darauf zu warten, diese
Gesichter.

„Ich kenne die Esten,“ setzt der alte Mann
fort, „denen hätte man nie die Unabhängig¬
keit geben sollen, die sind viel zu tüchtig
und zu frech geworden, aber, wie gesagt, sie
lieben ihre eigenen Leute, nicht wie unser
Säuferchen... Nach dem Krieg war ich als
Angehöriger einer Sondereinheit in Tal¬
linn, da haben wir die estnischen Terrori¬
sten einfach aufgehängt, ich selbst sah sie
baumeln... Dabei ist meine eigene Mutter
Estin. Aber so ist das Leben.“

Das Murmeln im Waggon verstummt, man
hört nur mehr das Rattern der Räder und das
klirrende Geräusch der vibrierenden Ten¬
sterscheiben. Die Spannung geht auf eine
Entladung zu, und ich ziehe instinktiv den
Kopfein, als erwartete ich einen Axtschlag.
„Das ist alles wirres Gerede ohne Hand und
Fuß“, brach die Maschinenbauingenieurin
das Schweigen. „Den Esten vergönne ich ja
ihre Freiheit, an unserer Misere ist die jüdi¬
sche Mafia schuld. Manche sagen, Jelzin
selbst sei Jude, aber das ist ungewiß, na ja
und Gaidar, dieses Schwein, das alles ver¬
brochen hat, der ist bekanntermaßen Halb¬
jude... Es ist immer wieder die alte Ge¬
schichte.“

„Das, meine Liebe, ist ohnehin bekannt, die
Juden sind sowieso die größten Verbrecher
unserer Zeit, besonders die amerikani¬
schen...“

Wie sollte ich mich verhalten? Sollte ich
mich deklarieren, zu erkennen geben, pro¬
testieren, mich prügeln, in einem Land wie
Rußland einen lebensgefährlichen Kran¬
kenhausaufenthalt riskiern, Bekanntschaft
mit der Miliz machen? Ich hatte Angst.
Auch mein Cousin blieb untätig. Ein alter,
glatzköpfiger, bulliger Mann erhob sich
schließlich und ging auf uns zu. Fr hatte bis
dahin schweigend die Szene verfolgt, sein
unbeweglicher Blick war mir aufgefallen.
„Wie alt sind Sie?“ fragte er meinen Nach¬
barn. „Fünfundsiebzig“ , antwortete dieser.
„‚ Wir sind also dieselbe Generation“ , sagte
der Neuhinzugekommene, , aber fiir solche

Mistkerle und Schweine wie dich haben wir
den Krieg nicht gewonnen... Raus aus dem
Zug!“, brüllte er so laut, daß sein Kontra¬
hent bleich wurde. Bevor auch nur der An¬
satz eines Protestes aufkommen konnte,
packte der bullige Alte den Antisemiten an
den Schultern, stieß ihn vom Sitz. Da der
Zug gerade in eine Station einfuhr und
bremste, stolperte der Angegriffene durch
den ganzen Waggon, schrie etwas Un¬
schmeichelhaftes, das durch das Quiet¬
schen der Bremsen übertönt wurde, fiel bei¬
nahe gegen die Wand und wurde, nachdem
die Türen aufgegangen waren, mit einem
Tritt aus dem Wagen befördert. Er versuch¬
te gar nicht mehr einzusteigen, der Zug fuhr
los und wir sahen ihn nie wieder.

Die Frau uns gegenüber sprach kein Wort
mehr und starrte demonstrativ aus dem Fen¬
ster, und der bullige Alte verzog sich wieder
in sein Eck, abseits von allen anderen Passa¬
gieren, die krampfhaft versuchten so zu tun,
als sei nichts geschehen. Die Gesichter schau¬
ten wieder düster und mit der für öffentliche
Verkehrsmittel gebotenen Gleichgültigkeit.
„, Was tu ich hier?“ dachte ich. Kurz spielte
ich mit dem Gedanken, das Land am nächsten
Tag überstürzt zu verlassen und war doch so
froh über das Geschehene...

Die gelähmte Zunge hatte sie der Möglich¬
keit beraubt, noch etwas zu sagen. Das letz¬
te was sie tat war zu zeigen, daß ihr die
Brust und der Bauch wehtaten. Vor dem

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zweiten Schlaganfall lag sie schon den gan¬
zen Tag im Bett...

*

Der Weg durch die Stadt fiihrt mich und
meinen Cousin durch den Newskij Prospekt
— die Haupt- und Prachtstraße der Stadt mit
ihren klassizistischen Bauten und pracht¬
vollen Palästen — vorbei an einem mitten am
Gehsteig aufgebauten Tisch, auf dem sich
zahlreiche Flugblätter stapeln, zur freien
Entnahme. Wir machen einen Bogen um
die Menschentraube. Zwei nicht allzu krie¬
gerisch aussehende Veteranen, gekleidet in
über und über mit Orden übersäte Unifor¬
men, halten ein Transparent hoch mit dem
Slogan: ,,Die Kurilen sind lebensnotwen¬
dig für die Existenz Rußlands, wirtschaft¬
lich, politisch und strategisch!“ Gelächter
seitens der Passanten. Eine füllige Frau mit
Kopftuch, die zwischen den Uniformierten
steht und offenbar zu ihnen gehört, be¬
schimpft die Lachenden.

„Schickt doch dieses Trio auf die Kurilen,
die werden dort schon für Ordnung sor¬
gen“, meint jemand. Wieder Gelächter.
Nur wenige machen vor dem Tisch halt und
studieren ausgiebig die Flugblätter und die
ausgestellte Literatur.

Der lange Spaziergang und die vielen Ein¬
drücke machen hungrig. Wir haben uns
durch die dichte Menschenmasse bis zu ei¬
nem Kaffeehaus durchgekämpft, haben ei¬
nen Bon bezahlt, sind damit zur Essensaus¬
gabe gegangen und haben ein undefinierba¬
res Reis- und Fleischgericht im Blechnapf
erhalten, dazu süßen, schwarzen Kaffee aus
einem rostig aussehenden Metallfaß. Mit
einem Schöpflöffel wird der Kaffee in Pla¬
stikbecher gefüllt.

„Du darfst das alles nicht zu schwarz se¬
hen“, setzt mein Cousin ein vorhin unter¬
brochenes Gespräch fort. Erscheinungen
des Überganges, erklärt er mir: sein Gehalt
von umgerechnet 200 Schilling im Monat,
der Antisemitismus, die obskuren Gestalten
mit ihren Kurileninseln, die beengten Fami¬
lienverhältnisse. Er jedenfalls hätte sich für
Rußland entschieden, sei hier zuhause, wer¬
de nie auswandern, nach Israel schon gar
nicht. Er hätte auch darauf bestanden, daß
sein kleiner Sohn den Familiennamen der
Mutter erhalte, der nicht so eindeutig jü¬
disch klinge wie der seine. ,, Wenn du dich
für ein Land entschieden hast, mußt du das
beste daraus machen. Warum soll ich mei¬
nem Sohn das Leben unnötig erschweren?
Meine Aufgabe ist es, ihm den Weg zu
ebnen, was er dann aus seinem Leben