Während der Emigration litt Hakel, wie die
meisten Internierten, an der Heimatlosig¬
keit und der unsicheren Zukunft. Mehr¬
mals beschreibt er Fälle von Lagerkoller,
den psychischen Zerfall von Häftlingen,
die die Aussichtslosigkeit nicht länger er¬
tragen konnten.
Hakel war seinem ganzen Wesen nach ein
Einzelgänger, und das nicht nur wegen sei¬
ner lebenslangen körperlichen Behinde¬
rungen — Beinverkürzung und auf einem
Auge blind; in der Lagergemeinschaft
übernahm er jedoch gewisse „geistige“
Funktionen und organisierte zum Beispiel
Kabarettvorstellungen, bei denen er Autor,
Regisseur und Mitspieler war.
Er fand aber auch genug Zeit für sein Ta¬
gebuch. Bei der Lektüre der damaligen
Aufzeichnungen bekommt man den Ein¬
druck, daß Hakel nie zuvor oder nachher
wieder so konzentriert geschrieben hat.
Nebensächliche Einzelheiten des Lagerall¬
tags werden mitunter zu pointierten Minia¬
turen:
Auf dem Holzblock vorm Haus liegt ein
verblutendes Schaf. S., unser Alleskönner,
Holzschnitzer, Klosettputzer, Kaninchen¬
züchter, Gärtner in einer Person, hat das
Tier soeben geschlachtet. Ein Carabinieri
hält es an den Beinen, S. den halb abge¬
schnittenen Kopf. F., unser Koch, steht in
einiger Entfernung und sagt: ‚So, jetzt
wirds gleich zucken, dann ist es wirklich
hin.“ Gleich darauf bäumt sich das Schaf
hoch auf. Wilder als je sein Leben war ist
sein Tod!
Nach der Befreiung durch die alliierten
Truppen erfuhr Hakel von den Massen¬
morden in den deutschen Vernichtungsla¬
gern und mußte nach einem Herzanfall in
Spitalsbehandlung. Wiederhergestellt,
fuhr er nach Palästina, wohin seine Familie
noch 1940 flüchten hatte können.
Erst zwei Jahre später, im November 1947,
kehrte er nach Wien zurück. Bei ihm zeigte
sich dasselbe Phänomen wie bei so vielen
vor und nach ihm: Er liebte diese Stadt und
haßte ihre Bewohner, die Hitler mit derar¬
tiger Begeisterung empfangen hatten. Dar¬
um befaßte er sich auch nur mit den damals
„jungen“ Autoren, meist Kindern von Na¬
zis, um vielleicht aus ihnen ‚‚andere‘“ Men¬
schen zu machen. Aber diese, kaum arri¬
viert, trennten sich von ihm und wandten
sich lieber aussichtsreicheren Institutio¬
nen, wie Parteien und Medien, zu. Nach
zahlreichen Herausgeberjahren, vor allem
von Viennensia und Judaica, verstummte
Hakel allmählich, veröffentlichte nichts
mehr und schrieb bloß an seinen Tage¬
buchaufzeichnungen weiter.
Aber in seinen Träumen holte ihn die Ver¬
gangenheit wieder ein. Es ist erstaunlich,
in wie vielen Nächten er in die Zeit zwi¬
schen 1938 und 1945 zurückkehrte. Alle
sind sie wieder da, die Überlebenden und
Vergasten, und besonders seine 1978 ver¬
storbene Mutter, zu der er ein ganz inniges
Verhältnis hatte. 1982, mit einundsiebzig
Jahren, notierte er einen solchen Traum.
Wir sind in einem riesigen, unüberschau¬
baren Schlafraum untergebracht. Aber
schon erhalten wir Befehl, uns draußen im
Hof zu versammeln. Meine Mutter schläft
noch tief. Ich habe Angst, daß sie tot ist.
Aber langsam kommt sie zu sich, schaut
mich verstört an und will weiterschlafen.
„Alle sind schon draußen“, sage ich, ‚wir
sind die Letzten!“ Endlich kann ich sie
hinausführen und wir schließen uns den
Abmarschierenden an. Während wir in
dieser Menschenmasse dahinstolpern,
weiß ich, daß vom letzten Transport nie¬
mand überlebt hat.‘
Daß es ihm nicht gelingen werde, zu ver¬
gessen, ahnte er vielleicht schon 1945, als
er in Tel Aviv ein Konzert besuchte.
... Zwei Männer beginnen auf der Bühne
vierhändig Schumann zu spielen. Ich habe
das Stück noch nie gehört, erkenne aber
sofort — das ist, was ich immer geliebt
habe: deutsche Romantik. Da ist ein Wald
und da ist ein Bach. Da ist ein Träumer,
der ein Buch bei sich hat und darüber
träumt. Da ist alles, was einmal schön war.
Und das wird hier in Palästina gespielt,
von zwei Juden für eine Handvoll anderer
Juden. Sie alle sind hierher geflüchtet vor
diesen Deutschen, aus dem Land der Kon¬
zentrationslager, der Massenmörder und
Massengräber. Da hat einmal ein deut¬
scher Meister auf seinem Instrument ge¬
träumt und phantasiert, — und ich lasse
mich zurückholen in die Wälder und Träu¬
me meiner Jugend! Und während die Mu¬
sik verklingt, denke ich, was ich so oft
gedacht und worauf ich noch immer keine
Antwort gefunden habe: Was haben wir
ihnen getan?
Hermann Hakel im Lynkeus Verlag
Ein besonderer Mensch. Erinnerungen an
Hermann Hakel. Red.: G. Amanshauser, E.
Kolovic, R. Kovacevic. Wien 1988, 220S.,
Paperback, 6S 248,¬
Diirre Aste, welkes Gras. Begegnungen
mit Literaten/Bemerkungen zur Literatur.
Wien 1991, 400 S., Leinen, 6S 384,¬
Der unheilbare Wahn. Denkprozesse. Hg.
von G. Amanshauser, Red.: E. Kolovic, R.
Kovacevic Wien 1993, 275 S., Leinen, 6S
296,¬
Postkarten als Erinnerung
Am 14. 3. 1995 wurde in Krems eine Post¬
kartenserie „Jüdisches Krems“ vorge¬
stellt, die an die vertriebenen und ermorde¬
ten jüdischen Bewohner von Krems erin¬
nert. Der Verkaufserlös wird für das ge¬
plante Mahnmal auf dem jüdischen Fried¬
hof verwendet. Acht Postkarten zum Preis
von 6S 100.-, zu bestellen beim ,,Perso¬
nenkomitee jüdischer Friedhof Krems“,
A-3500 Krems, Schillerstr. 15/2.