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Unterwelt der Stadt organisiert, erst nach und
nach entstanden bosnische Militärverbände.
Todorovic zeigt das politische Chaos im Bosni¬
en der Jahre 1991 und 1992, sichtbar in der
Nicht-Kommunikation zwischen den nationa¬
len Mitgliedern des Präsidiums der Republik.
Die ,,Drei-Heimaten-Herrschaft” (Todorovic,
S.208) begrub sukzessive eine demokratische
Entwicklung. Das Parlament wurde suspen¬
diert, die Parteien setzten sich über den entste¬
henden Rechtsstaat hinweg. Politik wurde hin¬
ter verschlossenen Türen gemacht und das Prä¬
sidium maßte sich unbegrenzte Vollmachten
an. Der Weg in die Diktatur war die Vorausset¬
zung für den Weg zum Krieg.

Ein Mordangriff auf einen serbischen Hoch¬
zeitszug im Herzen der Stadt im März 1992
wurde von der SDS demagogisch ausgenutzt.
Radovan Karadcic tat in Beograd umgehend
sein Kriegsprogramm kund: „,... sogar in der
Türkei wird eine serbische Hochzeit respek¬
tiert, aber nicht in Alijas Staat. Kaum konnte ich
unlängst Banja Luka wieder beruhigen, wie soll
ich das jetzt beim serbischen Volk in Sarajevo
zustande bringen? Ich fürchte, wir werden ei¬
nem interethnischen und interreligiösen Krieg
nicht ausweichen können, genauso wie damals,
als Indien und Pakistan geteilt wurden. Nordir¬
land wird eine Sommerfrische sein gegenüber
Bosnien-Herzegowina.” (S.220) Izetbegovic
drückte sein Bedauern über die Morde aus.
Todorovic zeiht ihn der Wankelmütigkeit, In¬
kompetenz und Schwäche.

Die weiteren Reportagen, die sich mikrosko¬
pisch den kriegsbedingten Veränderungen im
Alltag Sarajevos nähern, zeigen die Leiden in
der eingeschlossenen Stadt, die absurde Situa¬
tion, in die wehrlose Menschen gelangen, wenn
sie einem übermächtigen Feind ausgeliefert
sind, und den Kampf der Sarajlijes um einen
Rest menschlicher Würde. In ihrer wiederge¬
wonnenen Ruhe und Mitmenschlichkeit scheint
sich nun der tolerante und multikulturelle Geist
Sarajevos zu verkörpern, andererseits nimmt
Todorovic 1993 im Umland die Veränderungen
wahr, die der Krieg in die Menschen einge¬
brannt hat: „Während ich die Fahrt fortsetze,
überlege ich, wie sich alle der Situation ange¬
paßt haben. Die hiesigen Serben glauben ein¬
fach an ihren neuen Staat. Die Lage in Bosnien
wird genommen, wie sie ist, ein Wille für zu¬
sätzliche Erklärungen besteht nach so viel ver¬
flossenem Blut beiderseits nicht mehr. Die Zeit
hat das ihre getan, und je länger der Krieg
dauerte, desto klarer wurde, daß die Leute auf
der Seite des eigenen Volkes stehen würden.
Überzeugt, daß gerade sie im Recht sind.”
(S.120f.)

In der Wahrnehmung der unterschiedlichen
Mentalitaten in Sarajevo und im Umland spie¬
gelt sich die Tatsache, daß der Krieg in Ex-Ju¬
goslawien ein Krieg des Landes gegen die Städ¬
te ist. In der Belagerung Sarajevos wird das
traditionell antiurbane Verhalten des bäuerli¬
chen Landes deutlich. .(Vgl. dazu auch den Ar¬
tikel von Hannes Grandits und Joel M. Halpern:
„Traditionelle Wertmuster und der Krieg in
Ex-Jugoslawien” in der Schwerpunktnummer
3/94 ,, Traditionelle Lebenswelten auf dem Bal¬

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kan” der „Beiträge zur historischen Sozialkun¬
de”.)
In welcher Phase des Krieges befindet sich Bos¬
nien jetzt? Und: Wie wird es weitergehen? Die
Fragen können von Wien aus nicht beantwortet
werden. Ein Denkanstoß ist vielleicht die Ein¬
schätzung des in Sarajevo beliebten und machtpo¬
litisch einflußlosen Vorsitzenden der Liberalen
Partei Bosnien-Herzegowinas, Rasim Kadic:
„, Wir glauben, daß in diesem Augenblick die Zag¬
reber und Belgrader Regime von der groben Phase
des Krieges, der faschistischen Eroberung von
Territorien, zur sophistischen Phase der kriegeri¬
schen Eroberung übergehen, in der sie durch per¬
sonale Veränderungen versuchen werden, ihren
Faschismus zu schönen.
Ein dauerhafter und gerechter Frieden ist jeden¬
falls nur dann möglich, wenn man sich der
Aggression definitiv in den Weg stellt, woran
wir, wenn man nach den weltweiten Kräftever¬
hältnissen urteilt, nicht glauben. Eher wird es
zu einer mittleren Variante der völligen Auftei¬
lung Bosniens unter Legalisierung der ethni¬
schen Säuberung kommen.” (Todorovic,
S.19f.)

Bernhard Kuschey

Muhidin Saric: Keraterm. Erinnerungen aus
einem serbischen Lager. Drava Verlag, Kla¬
genfurt/Celovec 1994. 221 S.

Goran Todorovic: Sarajevo: Chronik der ver¬
brannten Illusionen. Wieser Verlag, Klagen¬
Jurt, Salzburg 1994. 269 S.

Das Tanztheater Susanne Hajdu

zeigte vom 26.-28.4. 1995 im Prunksaal der Öster¬
reichischen Nationalbibliothek das Szenario ‚‚Der
Kuckucksruf. 50 Jahre Ende des Zweiten Welt¬
kriegs“ mit Tanzrekonstruktionen nach Gertrud
Bodenwieser und Hilde Holger, ausgeführt von
Maria Salzmann und S. Hajdu, und Klavier¬
stiicken und Liedern von Ernst Krenek, Darius
Milhaud, Alban Berg, Paul Hindemith und Arnold
Schonberg, mit Anna Wagner (Klavier) und Gi¬
sela Theisen (Gesang).

Uberliest man die Texte, welche von den ge¬
nannten Komponisten vertont wurden, so stam¬
men sie aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert;
ihr Pathos wird dem Anlaß (Erinnerung an den
Bombenkrieg und die NS-Verfolgungen) nicht
gerecht. So befremden in diesem Rahmen auch
die einst vielleicht eigenartig beriihrenden Zei¬
len Alfred Momberts

Der Eine stirbt, daneben der andere lebt:

Das macht die Welt so tief schön.

Ganz andere Texte liegen zur Vertonung vor,
sind auch, z.B. die Berthold Viertel-Vertonun¬
gen von Eduard Steuermann, bereits vertont
und sollten gesammelt und benützt werden.
Leider scheint jetzt jeder damit von vorn anfan¬
gen zu müssen. Bei gleichem Geschick in Aus¬
führung und Verbindung der verschiedenen
Elemente des Szenarios und besserer Auswahl
der literarischen Komponenten hätte das Tanz¬
theater Susanne Hajdu mit seinem „Kuckuck“ ¬
Programm wahrscheinlich einen großen Ein¬
druck hinterlassen. K.K.

Buchzugänge

Walter Buchebner: zeit aus zellulose. Mit ei¬
nem Nachwort von Daniela Strigl. Graz, Wien,
Köln, Styria: Styria 1994. 116 S., 8 168,-, DM
24,80.

Um wichtige Gedichte aus dem Nachlaß erwei¬
terte Neuausgabe des 1969 erstmals erschiene¬
nen Bandes. Buchebner (1929 — 1964, durch
eigene Hand) hatte sich der Einberufung zum
Volkssturm durch Desertion entzogen, studier¬
te Germanistik, war Bibliothekar der Wiener
städischen Büchereien, Schriftsteller und Ma¬
ler. — Buchebners schmales Werk ist ein wich¬
tiger Beitrag zu jener verzweifelten und zerris¬
senen österreichischen Nachkriegsliteratur,
die sich nicht im ideologischen Komfort der
„Inneren Emigration“ einnistete.

Dokumentationsarchiv des österreichischen
Widerstandes: Jahrbuch 1995. Redaktion:
Siegwald Ganglmaier. 162 S. (Beziehbar über
DÖW, 1010 Wien, Wipplingerstr.8).
Schwerpunkt auf Österreich 1945-95. Gerhard
Botz und Albert Müller über die sogenannte
„Stunde Null“, Irene Bandhauer-Schöffmann
und Ela Hornung über den ‚Topos des So¬
wjetsoldaten“, Doron Rabinovici über das Bild
der USA im Nachkriegsösterreich. Dazu u.a.
Erinnerungen an den Widerstand von Wilfried
Daim und ein Aufsatz über exilpublizistische
Aktivitäten in der Washington Post von dem
Leopold Kohr-Biographen Franz Lehner. Das
seit 1986 erscheinende Jahrbuch des DÖW
wird für die Arbeit von Exil- und Widerstands¬
Forschern immer wertvoller.

Jahrbuch 1993 der Oskar Maria Graf Gesell¬
schaft. Hg. von Ulrich Dittmann und Hans Dol¬
linger. Miinchen: Paul List Verlag 1994. 146S.,
6S 187,-, DM 24,-.

Erstes Jahrbuch der O.M. Graf-Gesellschaft
mit einer Auswahlbibliographie von Helmut F.

Pfanner und Aufsätzen von Gerhard Bauer,

Ulrich Dittmann und Ulrich Kaufmann, sowie

Unveröffentlichtem aus dem Nachlaß, darunter
ein bemerkenswerter Aphorismus:

„Zweifellos ist noch jeder Dichter am Wider¬

stand der Gesellschaft gewachsen, das eben hat
zum Grund, daß jast jedes dauernde Werk tief
pädagogische Züge hat. Es ist Protest gegen die
Meinungslosigkeit der Vielen und der Wille
zum »so soll es sein«.“

In Zukunft soll das Jahrbuch auch „‚Beiträgern
offenstehen, die über Fragen des Erzählens,

über Regionalismus und Moderne, über Heimat
und Kosmopolitismus schreiben wollen“. Wulf
Kristen hat die an ihn gerichteten Briefe Grafs
zur Verfügung gestellt und ein Postscriptum
dazu geschrieben. ‚Regionalismus und kosmo¬
politisches Denken und Verhalten müssen sich
nicht ausschließen.“ Für diesen Satz steht, Kir¬
sten zufolge, Grafmit Leben und Werk. Kirstens
aktuelle Schlußfolgerung: ‚Es ist ein verhäng¬
nisvoller Fehler, eine arrogante Dummheit vie¬
ler Linker, dieses Feld (Bekenntnis zu einer
Region) zu verachten und nicht zu besetzen.“
Im Jahrbuch 3 der Theodor Karmer Gesell¬