schaffen konnten. Fürsorglich hatten sie
seine Kleider und Bücher schon mit sich
genommen und ihm nach der nahe bei Bu¬
chenwald gelegenen Stadt Weimar einen
Vertrauensmann mit der Schiffskarte zur
Überfahrt nach U.S.A. gesandt, der nun
dort auf ihn wartete. Niemand, der das nicht
erlebte, vermag sich die grenzenlose Ver¬
zweiflung des jungen Menschen vorzustel¬
len, für den sich das Tor der Freiheit schon
geöffnet hatte, der aber nicht mehr die Kraft
besaß, durchzugehen. Immer und immer
wieder versuchte er, sich von seinem Lager
zu erheben, immer und immer wieder
schleuderte ihn das Fieber zurück. Wirtaten
unser Möglichstes, um ihn zu trösten. ‚‚Was
sind schon die paar Tage, die du hier noch
länger verbringst, gegen die Erlösung, die
vor dem Lagertor auf dich wartet!“ Das
waren unsere Worte des Trostes. Ja, die
Erlösung wartete dort auf ihn, jedoch eine
andere: die Erlösung jener, die er bisher
dorthin begleitet hatte. Jetzt freilich brauch¬
te er nicht mehr Träger zu sein; wir trugen
ihn nun in einer Decke zum Lagertor, wir
betteten ihn in die Kiste und streuten, statt
Blumen, Sägespäne über ihn, ehe wir sie
schlossen. Wieviel ungeschriebene Ge¬
dichte, wieviel unvollendete Werke haben
wir darin mit ihm verriegelt! dachte ich, als
ich die Kiste auf dem Auto nach Weimar
zur Verbrennung fahren sah.
Aus: Julius Freund: O Buchenwald! Mit
einem Vorwort von Franz Theodor Csokor.
Klagenfurt 1945, S. 83f.
Julius Freund — ein Wiener Sozialist —
wurde 1939 aus dem Konzentrationslager
Buchenwald entlassen. Bald nach seiner
Riickkehr zu seiner Wiener Familie ent¬
schloß er sich zur Emigration. Seine Erin¬
nerungen an die Konzentrationslagerhaft,
die in dieser 1945 veröffentlichten Ausgabe
vorliegen, schrieb er schon im Jahre 1939
nieder.
Etwa jeder Fünfte der über 240.000 Men¬
schen, die zwischen 1937 und 1945 das
Lagertor von Buchenwald passierten, war
als Jude inhaftiert. Allein von 1937 bis
1942 gingen 17.000 jüdische Männer durch
dieses Lager. In diesen ersten fünf Jahren,
denen die Deportation fast aller jüdischen
Häftlinge des Lagers nach Auschwitz folg¬
te, wurden von ihnen 2795 auf dem Etters¬
berg getötet.
Harry Stein: Juden im Konzentrationslager
Buchenwald 1938 — 1942. In: Th. Hof¬
mann, H. Loewy, H. Stein (Hg.): Pogrom¬
nacht und Holocaust. Weimar, Köln, Wien
1994, S.81.
den ersten Jahren seiner Existenz trat die Vernichtungsfunktion fiir alle Häftlinge
deutlicher hervor.
Das Gewaltsystem Buchenwalds war ident mit dem aller großen Konzentrationsla¬
ger: Die konzentrischen Kreise der tagsüber aufgezogenen Postenkette um das Lager
und des elektrisch geladenen Zaunes samt den MG-bestückten Wachtürmen, die das
Lager einschlossen, erzeugten mittels absoluter Todesdrohung jenen Druck, der den
Häftlingen keine Freiheitsgrade mehr ließ. Diese absolute Einschließung und das
direkte gewalttätige Einwirken der SS ermöglichten es, die Häftlinge zu beinahe allem
zwingen zu können. Neben ihrer Ausbeutung und Vernichtung konnten die Häftlinge
zur Mitwirkung an ihrer Unterdrückung und Vernichtung gezwungen werden. Der
Vernichtungszweck und der barbarische Zwang zur Mithilfe an diesem Zweck unter¬
scheidet das KZ-System grundlegend von jedem Gefängnis. Zwar wird in normalen
Gefängnissen auch danach getrachtet, die Erhaltung des Gefangenenhauses durch
Häftlingsarbeit zu bewerkstelligen, und auch dort kommt es zur Ausbildung mächtiger
Häftlingscliquen. Aber der unausweichliche Zwang zur praktischen Organisation der
Vernichtung durch Arbeit, der Deportationen in die Vernichtungslager des Ostens und
die Mitwirkung an der Exekution von Strafen stellt wahrlich eine andere Qualität von
Gewaltanwendung gegenüber Häftlingen dar. Die Häftlingsfunktionäre waren gezwun¬
gen, die barbarischen Ziele der SS praktisch umzusetzen.
Das erste, besonders brutale SS-Regime in Buchenwald unter dem berüchtigten
Lagerkommandanten Koch, das sich auch auf die persönliche Bereicherung speziali¬
siert hatte und darum im Dezember 1941 von der SS-Führung abgelöst wurde, verstand
sich darauf, entsprechende Helfer aus bestimmten Häftlingsgruppen zu rekrutieren. Die
ersten Häftlingsfunktionäre waren ausschließlich BVer, sog. Berufsverbrecher, viele
von ihnen entwickelten eine besondere Brutalität gegenüber den übrigen Häftlingen
und boten begüteteren Häftlingen Schutz gegen Bestechung. Auch Ernst Federn hat
zumindest 1938 an Kapos Schutzgelder gezahlt.
Ich stütze mich nun in der folgenden Zusammenfassung zur Sozialstruktur des
Lagers Buchenwald auf die soziologische Analyse des ehemaligen Häftlings Paul
Neurath, die 1951 in den USA erschienen ist. Er glaubt in Dachau die Politischen
Häftlinge als normsetzende Gruppe ansehen zu dürfen. In Buchenwald sah er zwei im
Verhältnis zur Lagerstärke eher kleine Gruppen dominieren und um Einfluß im Lager
kämpfen. Ein kleiner Kern miteinander bekannter und informell organisierter politi¬
scher Häftlinge, vor allem Kommunisten, versuchte Anhänger unter den aus Dachau
eingelieferten Juden zu gewinnen, von denen viele aus der Arbeiterbewegung kamen.
Die verschiedenen kriminellen Cliquen hingegen suchten Anschluß bei den nach
Tausenden zählenden sog. „Asozialen“, die in den Zentren des illegalen Schmuggels,
in der SS- und Lagerküche, in der Schuhmacherei und Strumpfstopferei in der Anfangs¬
zeit des Lagers Positionen innehatten. Sie entfalteten, anders als in Dachau, ein eigenes
organisiertes Leben und unterhielten Austauschbeziehungen zu anderen Gruppen, und
wie schon erwähnt, stellten sie die meisten sog. „‚Funktionshäftlinge“ . Die Unterschie¬
de zwischen den beiden Gruppen konstatierte Paul Neurath vor allem in der Organisa¬
tion des Lebens am Block. Wo BVer einen Block führten, hatten diese meist ihren
Vorteil im Auge, was zu dauernden Kampfsituationen im Block führte, während in den
Blocks der Politischen Häftlinge oder Juden, die ja in eigenen Blocks separiert waren,
ein strenges Reglement von „Ordnung und Disziplin“ durchgesetzt wurde, um einer¬
seits mit den knappen Ressourcen zurecht zu kommen und andererseits Strafen der SS
zu vermeiden.®
Der Kampf der B Ver und der Politischen Haftlinge um die Lagerfunktionen, d.h. ihr
Versuch diese Funktionen in ihrem Interesse zu gewinnen und auszuniitzen, und
natürlich die Benützung und Ausspielung dieser Häftlingsgruppen durch die SS pro¬
duziert ein komplexes Sozial- und Beziehungsgeflecht im KZ-Buchenwald, das von
der Geschichtswisenschaft noch keineswegs erhellt ist. Die KZ-Forschung tradiert oft
und in unangenehmen Ausmaß die Punzierung der Häftlinge durch die Nazis; das die
Realität verfälschende Bild der guten Politischen und der bösen Kriminellen wird
erstaunlich eindimensional strapaziert. Festgehalten kann nur werden, daß die Grau¬
samkeit des Aufbaulagers Buchenwald mit dem Einsatz von BVern als sog. ,,Funkti¬
onshäftlinge“ korreliert, und daß 1939 eine Machtübergabe an die deutschsprachigen
politischen Häftlinge bzw. deren Übernahme der Lagerfunktionen stattfindet. Über das
Warum und Wie dieses Wechsels an der Spitze der Häftlingsgesellschaft gibt es in der
historischen Literatur und in Berichten von Häftlingen einige Ansätze und Interpreta¬
tionsversuche, die noch nicht zu einer Analyse dieses bedeutsamen Umbruchs ausge¬