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Vor allem Souveränität

Über Ruth Klügers Wissenschaft von der
Literatur

Es ist nun fast ein Jahr her, daß Ruth Klüger
am 21. November 1994 im Rahmen der ,, Wie¬
ner Vorlesungen“ im Festsaal des Wiener Rat¬
hauses zum Thema ‚Mißbrauch der Er¬
innerung: Zum heutigen Umgang mit den NS¬
Verbrechen“ sprach. Über 600 Zuhörer waren
gekommen. In ihrem Vortrag ging Klüger auch
auf den Streit um Steven Spielbergs Film
„Schindlers Liste“ ein und verteidigte das
Recht des Regisseurs, den , Holocaust“ in einer
besonderen Geschichte, der des ,,Judenret¬
ters“ Oskar Schindler, darzustellen. In der
anschließenden Diskussion versuchte Klüger
zu zeigen, daß die Kritik an der Kultur der
KZ-Museen durchaus mit der Anerkennung ih¬
rer historischen Notwendigkeit vereinbar ist.
Unausgesprochen bekannte sie sich zu einer
ausgleichenden Vernunft, die Probleme und
Gefahren zu diagnostizieren weiß, ohne sich
dadurch in ein unfruchtbares Entweder-Oder
treiben zu lassen. Ausgleichende Vernunft,
wenn sie nicht auf Anpassung hinauslaufen soll,
hat aber eine Voraussetzung: persönliche Sou¬
veränität. In ihren Büchern führt Ruth Klüger
diese Souveränität, die so schwer zu erlangen
ist, vor. — Die Einladung zum Symposium
„Frauen im Exil“ hat sie leider nicht angenom¬
men. Sie hat, schrieb sie in ‚weiter leben“
(1992), ‚keine Freunde, keine Verwandten
mehr in Österreich ... Nur die Literatur dieses
Landes, von Adalbert Stifter bis Thomas Bern¬
hard, redet mich intimer an als andere Bücher,
nämlich im bequemen Tonfall einer vertraut
hinterfotzigen Kindersprache. “

In ihrem berühmt gewordenen Buch über ihre
Jugend erzählt Ruth Klüger an keiner Stelle, um
einer Erwartung zu genügen oder um durch
eigenes Erleben einen Sachverhalt zu illustrie¬
ren. Sie widersetzt sich jedem vorschnellen
Verstehen und verschmäht es nicht, sich ver¬
ständlich zu machen. Die Rezensenten hielten
sich meist ans Schicksal der Autorin, an eine
Jugend in deutschen Konzentrationslagern, be¬
dauerten Versäumtes, imaginierten Wiedergut¬
machung, und so mischte sich in den Oberton
begeisterter Zustimmung ein zuerst schwer
wahrnehmbarer Unterton, nämlich ein verbis¬
senes Grübeln darüber, wie man einen Zustand
herbeiführen könne, in dem ein Typus wie Ruth
Klüger nicht mehr reden muß, also zum
Schweigen gebracht ist.

Kaum wurde auf den reflektierenden Duktus der
Erzählung eingegangen, in dem sich das Streben
nach Souveränität — Souveränität der Form und
des Gedankens — trotzig manifestiert. Die das
ganze Buch durchziehende Auseinandersetzung
mit der ‘Erinnerungskultur’, etwa der KZ-Muse¬
en, wurde zwar bemerkt, aber nur als besonderes
Problem des Typus Ruth Kliiger wahrgenommen,
nicht als ein ktinstlerisches Grundproblem der
Gegenwart begriffen. Ihr war es darum zu tun,
„den Vorhang aus Stacheldraht zu durchbrechen,

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den die Nachkriegswelt vor die Lager gehängt
hat“, und mit ihm eine ‚Trennung von Einst
und Jetzt“, die der Wahrheit nicht dient. Wer
ein wenig nachdenkt, wird erkennen, daß diese
Trennung von „Einst und Jetzt“ nicht nur den
Nachkriegsbegriff der „Gegenwartsliteratur“
konstituiert, sondern auch jeder literarischen
Gestaltung unserer Zeit eine Schranke setzt, die
um so unüberwindbarer ist, je wohler man sich
hinter ihr fühlt.

Brach Ruth Klüger mit ihrem ersten Buch ins
Wohlgefühl der „Vergangenheitsbewältigung“
ein, ist ihr zweiter Band ein Schlag gegen das
Arrangement der heutigen Germanisten: Die Er¬
forschung des Exils und der NS-Literatur über¬
ließen sie den Spezialisten (und manch einer hat
solch einen Spezialisten in eigener Person), um
sich der ,,Gegenwartsliteratur‘‘ als einer anderen,
im Grunde heilen Welt zuwenden zu können. Ich
kenne etliche Aufsätze, Dissertationen, sogar Bü¬
cher österreichischer Germanisten über Exillitera¬
tur, aber keinen einzigen Aufsatz, der etwa die
Fragen stellt: Welches Bild des „Holocaust“
zeichnet die Gegenwartsliteratur? Oder: Gibt es
ein „Judenproblem“ in der österreichischen
Nachkriegsliteratur?

Ruth Kliiger stellt die Frage nach dem , ,Judenpro¬
blem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur, und
das Resultat, zu dem sie gelangt, ist zu bedenken.
Sie geht zunächst von den Inszenierungen von
Skakespeares „Kaufmann von Venedig“ auf
deutschen Theatern aus und kommt dadurch auf
ihre entscheidende Feststellung: In Deutschland
„wird Shylock meist als eine Art pervertierter
Nathan gespielt“, und ‚so erweckt er im Publi¬
kum wohl weniger den Jammer und Schrecken
einer Katharsis als vielmehr eine Mischung von
brutaler Ablehnung und sentimentaler Einfüh¬
lung“. In der ,, Behandlung jiidischer Gestalten in
der deutschen Nachkriegsliteratur“ herrscht
„weitgehend dieselbe ungute Mischung vor“.
Brutale Ablehnung und sentimentale Einfühlung
— Ruth Klüger demonstriert es an Werken des
unbekannten Hans Scholz und des sehr bekannten
Alfred Andersch. Die jüdischen Kinder und Mäd¬
chen in diesen Büchern erscheinen als „hilflos
aufgeliefert und nicht autonom“, bloße Objekte
des inneren ethischen Ringens der deutschen Pro¬
tagonisten. So mag hier selbst die Entscheidung
zum Widerstand gegen Hitler am ‚‚Judenpro¬
blem“ vollzogen sein, aber die Juden, die das
Problem gewissermassen stellen, verbleiben in
einem Status des Behandeltwerdens, sie sind kei¬
ne Akteure im zwischenmenschlichen Gesche¬
hen. Indem ihre Aussonderung in ihrer Gestaltung
schon strukturell vorausgesetzt ist, versagt in die¬
sem Punkt jede Opposition gegen den vom Natio¬
nalsozialismus geschaffenen Weltzustand. Man
ist gegen Hitler, akzeptiert aber in trüber Weise
die Folgen seiner Herrschaft.

Ein zweiter Grundgedanke Klügers: Ihre Polemik
gegen das Geraune von der nicht darstellbaren
Ungeheuerlichkeit der Judenverfolgung. In der
Rede von der Unerklärlichkeit und Absurdität
eines Todeslagers wie Auschwitz-Birkenau ver¬
wischen sich alle Unterschiede, wird abgelenkt
von der „‚banalen Wahrheit, daß die Nazis wirkli¬
che Menschen und leibhaftige Deutsche waren“.
Die Germanistik ehrt dann ein solches Verwi¬

schen mit der schönen Floskel, daß sich „‚der
Erzähler auf die Höhe des Ungeheuren, das
nicht beredet werden darf, begibt“. Kein Über¬
gang scheint darstellbar vom Banalen zum
„Ungeheuren“, und das Leben des Menschen
fährt auseinander in „ein wüstes Durcheinander
aus biologischen Funktionen und dem Spiel des
Zufalls‘“ — Gedanke, den Alfred Andersch sei¬
nen jiidischen Helden ,,Efraim“ (1967) aus¬
sprechen läßt, und der den Umschlag der Rede
vom ,,Ungeheuren“ in eine erneute biologisti¬
sche Spekulation dokumentiert.

Die Gestaltung der Juden in der deutschen Li¬
teratur hat ihre Entwicklungsgeschichte. Für
Ruth Klüger gibt es „Katastrophen“ nicht nur
außerhalb der Literatur. Für sie ist die themati¬
sche Verschiebung von Lessings „Nathan“ zu
den Judengestalten der deutschen Literatur des
19. Jahrhunderts (beginnend mit der
Spätromantik) eine literarische Katastrophe,
ebenso der nicht erfolgte Übergang vom Tho¬
mas Mann des Exils zur deutschen Nachkriegs¬
literatur. In einem anderen Sinne wirft ihr Buch
auch die Frage auf, wie die Literatur mit dem
Einbruch des Katastrophalen ins menschliche
Leben umgeht, ob sie sich öffnet oder ver¬
schanzt (wie bei Adalbert Stifter).

Eingehend auf die Darstellung des ,,Antisemitis¬
mus im Werk jiidisch-Gsterreichischer Autoren“,
hält Ruth Kliiger noch einmal fest: ,,Die literari¬
sche Auseinandersetzung mit dem Antisemitis¬
mus wird von seiten einer Literaturwissenschaft,
die sich noch immer an den höheren Werten ori¬
entiert, vernachlässigt.“ Das mit den „‚höheren
Werten“ ist, wie mir scheint, nicht ganz das Prob¬
lem; Klüger gebraucht diese Formulierung, wie
mir scheint, als eine winzige Höflichkeit gegen¬
über ihren wahrscheinlich gerne damiteinverstan¬
denen Germanisten-Kollegen. (Gerade in puncto
„höhere Werte“ glauben sie, darüber schon hin¬
weggekommen zu sein).

Elisabeth Freundlich (vgl. ihren Aufsatz „Die
im Lande blieben“ in dieser MdZ;) weist darauf
hin, daß keiner der Autoren, die in der NS-Zeit
im Lande blieben und nach 1945 „‚Innere Emi¬
gration“ für sich in Anspruch nahmen, eine
Chronik, ein Tagebuch der NS-Zeit verfaßt hat.
Auch nach 1945 spielt der Massenmord an den
Juden in der österreichischen Literatur kaum
eine Rolle. (Geändert hat sich das erst in den
80er Jahren.) Im allgemeinen scheinen zwei
Haltungen besonders ausgeprägt: die Klage
über das eingetretene, unfaßbare und daher
nicht näher zu beschreibende Verhängnis einer¬
seits, und die Munterkeit des gerade noch Da¬
vongekommenen, des „Lieben Augustin“ an¬
dererseits. Die österreichische Literaturwissen¬
schaft ist in ihrer Geschichtsschreibung der
Nachkriegsliteratur bisher kaum auf diese hier
nur angedeuteten Probleme eingegangen.

Ruth Klüger jedenfalls eröffnet, insistierend auf
das von der Literaturwissenschaft Vernachläs¬
sigte, neue Zugänge zur Entwicklungsge¬
schichte und zum Zusammenhang literarischer
Gestalten.

Konstantin Kaiser

Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Li¬
teratur. Göttingen: Wallstein 1994. 229 S.