auf allen dreien der Trennungsschmerz von der
Mutter, die bereits seit Jänner 1940 im Konzen¬
trationslager Ravensbrück war und nun unend¬
lich weit entfernt schien. Der Briefkontakt wur¬
de sehr mühselig über Freunde in der Schweiz
und eine Tante in Wien aufrechterhalten. Im
Frühjahr 1942 kam die Nachricht vom Tod
Käthe Leichters nach New York, damals noch
mit der Angabe Kreislaufschwäche als Todes¬
ursache. Erst nach dem Krieg erfuhr die Familie
von Mitgefangenen vom Transport und der
Vergasung der jüdischen Gefangenen, unter de¬
nen sich auch Käthe Leichter befunden hat.
H.O. Leichter wurde im Juni 1943 ‚ amerikani¬
scher Soldat“. Er selbst empfindet dies heute
als wichtigen Schritt in seiner Identitätsent¬
wicklung: „Ich wurde vom europäischen
Flüchtling zu einem echten Amerikaner.“ Zum
Schutz der Soldaten im Falle einer deutschen
Gefangenschaft erhielten alle deutschsprachi¬
gen Emigranten englische Namen. Im Sommer
1944 landete seine Division in der Normandie.
H.O. Leichter war Sanitäter. Ende April 1945
erreichte er die österreichische Grenze. Mit der
„Rückkehr nach Wien“ und dem ‚Rest der
Geschichte“ schließt das Buch.
Das Buch ist ein Beitrag zur Geschichte der
Ersten Republik, einer Epoche, die, etwa im
Vergleich zum Fin de siecle, in Österreich noch
immer zu gering geschätzt wird.
Henry O. Leichter: Eine Kindheit. Wien — Zü¬
rich — Paris — USA. Wien, Köln, Weimar:
Böhlau Verlag 1995. 198 S., 68 298,-.
Die Fähigkeit zu
verstummen
Die vier Jahre alte Tamara streckte entsetzt die
Arme nach ihrer großen Schwester aus und
flehte sie an, sie nicht allein zu lassen. Doch die
siebenjährige Ruth konnte nicht helfen. Der
Anblick von Tamara, die später in Auschwitz
ermordet wurde, hat sie ihr Leben lang verfolgt.
Ruth wurde nicht deportiert, weil sich ein Vet¬
ter, Mitglied des Judenrates, für sie einsetzte
und der Nazikommandant sie für alt genug
hielt, um zu arbeiten. In einer oft beobachteten
Opfer-Täter-Umkehr hielt sich Ruth verant¬
wortlich für den Tod ihrer Schwester. Mit einer
Kindern in diesem Alter eigenen Egozentrik
glaubte sie, alles sei allein ihre Schuld gewesen.
Im entscheidenden Augenblick habe sie sich
falsch verhalten. Weil sie früher auf die kleine
Schwester einfersüchtig gewesen sei, habe Gott
diese den Nazis ausgeliefert. Ruth tauchte bei
einer nichtjüdischen Familie unter und blieb am
Leben. Doch über die Traumata, die Ängste und
die Schuldgefühle ihrer Kindheit konnte sie erst
Jahrzehnte später sprechen.
Das ist, in wenigen Sätzen, eine der von Andre
Stein in seinem Buch “ Versteckt und verges¬
sen. Kinder des Holocaust” geschilderten zehn
Geschichten von jüdischen Kindern, die den
Krieg in Verstecken, meist bei Nichtjuden,
überlebten.
Der aus Budapest stammende Andre Stein ist
selbst eines dieser Kinder. Später wanderte er
nach Kanada aus, unterrichtete Soziologie an
der Universtät von Toronto, wurde Psychothe¬
rapeut und widmet sich in seiner Arbeit vor
allem Folteropfern und den Überlebenden des
Holocaust. Für sein 1993 bei Viking Press in
New York erschienenes Buch interviewte er
Überlebende. Kindheit, Jugend, aber auch das
spätere Schicksal der “Kinder des Holocaust”
werden auf eine sehr einfühlsame Weise ge¬
schildert. Auf eine subtile, nie marktschreieri¬
sche oder sensationslüsternde Art werden die
Verletzungen, die diesen Kindern zugefügt
wurden, nachgezeichnet. Bei aller Verschie¬
denheit ist den Lebensschicksalen eines ge¬
meinsam - die verlorene Kindheit.
Da er selbst ein Betroffener ist, gelingt es dem
Autor, seinen Interviewpartnern die richtigen
Fragen zu stellen, ihre Verdrängungsmechanis¬
men und Neurosen zu verstehen und ein Psy¬
chogramm der Opfer zu zeichnen, das über das
Vordergründige und Offensichtliche hinaus¬
geht. Er beschränkt sich nicht darauf, eine Ab¬
folge von Ereignissen zu schildern, sondern
stellt Querverbindungen zwischen den ver¬
schiedenen Lebensläufen her, weist auf Ge¬
meinsamkeiten und Unterschiede hin, ent¬
wickelt, soweit möglich, eine Systematik des
Grauens.
Zusammenfassend könnte man sagen, daß es
die Fähigkeit zu verstummen war, die diesen
frühzeitig in eine perverse Erwachsenenwelt
gestoßenen Kindern das Überleben ermöglich¬
te. Nur wer es schaffte, sein eigenes Selbst zu
verleugnen, sich den neuen Gegebenheiten in
einem Versteck oder bei einer nichtjüdischen
Familie vollständig anzupassen, die eigenen
Wünsche zu unterdrücken, sich eine neue Iden¬
tität, wie einen Schutzpanzer, zuzulegen, stän¬
dig auf der Hut zu sein, allen zu mißtrauen und
schon in frühem Alter Verantwortung zu über¬
nehmen, hatte eine Chance. Eine fast unerfüll¬
bare Aufgabe für ein Kind, das sein Leben lang
an den seelischen Folgen zu leiden haben wird.
Die Befreiung von der Naziherrschaft bedeutet
vielfach nicht das Ende der existentiellen Be¬
drohung. Zum seelischen Schmerz über den
Verlust von Familienangehörigen oder dem
Schock, Eltern gegenüberzustehen, die inzwi¬
schen fremd geworden sind, die das Kind oft
nicht mehr kennt oder nicht mehr als Eltern
anerkennen möchte, kommt der Antisemitis¬
mus, der sich nach 1945 gegen die wenigen
Überlebenden richtet. Yaffa Eliachs Mutter und
ihr kleiner Bruder werden 1946 vor den Augen
der Tochter von ihren polnischen Nachbarn
ermordet, der Vater kommt in ein sowjetisches
Arbeitslager.
Der Autor räumt auch mit dem gängigen Kli¬
schee auf, alle Personen, die Juden versteckt
hatten, seien Helden gewesen. Zweifelsohne
versuchte ein Großteil von ihnen, unter Einsatz
ihres Lebens, Menschen zu helfen. Die sechs¬
jährige Aniko Berger wurde jedoch von dem
Ehepaar, bei dem sie sich versteckt hatte, stän¬
dig mißhandelt und von den beiden halbwüch¬
sigen Söhnen ihrer “Retter” mißbraucht. Das
war keineswegs ein Einzelfall.
Was dieses Buch so wertvoll macht, ist die
Fähigkeit des Autors, die Perspektive des Kin¬
des zu verstehen, den Haß z.B. auf die Eltern,
die es “weggegeben” und “ verlassen” haben.
Eindringlich wird gezeigt, wie die Kinder des
Holocaust in ihrem späteren Leben zurecht zu
kommen versuchen. Daß viele von ihnen im
Sozialbereich tätig sind, scheint kein Zufall.
Der Holocaust hört für die Opfer, ganz beson¬
ders, wenn sie Kinder waren, nie auf.
Leider hat die Übersetzerin für Formulierun¬
gen, die im amerikanischen Englisch üblich
sind, für unser Ohr aber unerträglich pathetisch
klingen, keine passenden deutschen Entspre¬
chungen gefunden. Kleinere historische Fehler,
die dem Autor unterlaufen sind, sollte ein Lek¬
torat bereinigen.
Andre Stein: Kinder des Holocaust. Versteckt
und Vergessen. Aus dem Amerikanischen von
Sabine Steinberg. Europaverlag: Wien, Mün¬
chen 1995. 351 S., 6S 298,¬
„Künstlerinnen in Österreich
1897-1938“ von Sabine
Plakolm-Forsthuber
Dieses Buch recherchiert die emanzipatori¬
schen Wege von Künstlerinnen im „steinernen
Wien“ ‚eine Kulturgeschichte der ‘anderen Sei¬
te‘, eine Geschichte des ,,verborgenen Muse¬
ums“.
Die historischen Analysen beschreiben die
Strategien der Verhinderung und Ausgrenzung,
erzählen von den Manövern des Infamen und
der Diffamierungen bis hin zur apodiktischen
Ablehnung eines existenten, weiblichen Künst¬
lerpotentials.
„Zwischen der Kunst von Frauen und der offi¬
ziellen, männlichen Domäne wiederholt sich
das Verhältnis vom Fürst und Fiaker, vom Ho¬
frat und Boten, vom Bourgeois und Arbeiter —
auf jeder der schiefen Ebenen: als das der von
Mann und Frau.“ (S 25)
Das Buch schreibt die Geschichte der künstle¬
rischen Emanzipation, gegen männliche Domä¬
nen, auf den Ebenen: Ausbildung, kulturelle
Öffentlichkeit und Kunstmarkt. So verwehrte
die Wiener Akademie bis 1920 den Frauen das
Recht auf gleiche Ausbildung; Künstlervereini¬
gungen, wie das Wiener Künstlerhaus und die
so moderne Secession verweigerten Künstle¬
rinnen die Mitgliedschaft und selbst der offene,
libertäre Hagenbund ließ nur eine korrespon¬
dierende Mitgliedschaft zu. Dagegen wird 1897
die Kunstschule für Frauen und Mädchen ge¬
gründet, bereits ab 1885 bilden sich die erste
Künstlerinnen-Vereine und ab 1910 kann der
„Verein bildender Künstlerinnen“ bis zu 100
(!) Mitglieder zählen. 1911 wird die Ausstel¬
lung ,,Kunst der Frau“ — eine erste, groRange¬
legte Retrospektive — zu einer vergleichlosen
Pionierleistung: 315 Exponate, Bilder und Pla¬
stik vom 16. bis zum 20. Jhdt., von Sfinisba