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Erinnerung an Käthe
Leichter

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus
dem man nicht vertrieben werden kann.

Diesem Satz von Jean Paul begegnet man sehr
oft, wenn man sich mit der Familie Leichter
beschäftigt: Charlotte Rubinstein, die
Großmutter von Henry O. Leichter zitierte ihn
bei vielen Gelegenheiten, so berichtet es uns
Käthe Leichter, die Mutter von H.O. Leichter
in ihren ,,Lebenserinnerungen“. Und auch in
der dritten Generation zeigt er seine Wirkung.
Den Erinnerungen des Enkels kann er leitmoti¬
visch vorangestellt werden.

Wo lag es, jenes Paradies, und worin bestand
es? Es lag und liegt größtenteils in Wien, wenn
der Untertitel auch Zürich, Paris und die USA
nennt, und es war und ist eingebettet in die
Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit und
in das jüdische Bürgertum.

1924 wurde Heinz Otto Leichter als Sohn von
Käthe und Otto Leichter in Wien geboren. Sie
waren zu diesem Zeitpunkt bereits eng mit der
Sozialdemokratie verbunden. Die stürmische
Zeit der Rätebewegung nach dem Ersten Welt¬
krieg, für beide die Einstiegsphase in die poli¬
tische Betätigung, war vorbei und die Sozialde¬
mokratische Arbeiter-Partei Deutsch-Öster¬
reichs hatte sich auf nationaler Ebene in die
Opposition begeben. Auf regionaler Ebene, in
Wien, saß sie aber an den Schalthebeln der
Macht und entfaltete beeindruckende Aktivitä¬
ten. Die gemäßigten Linken mit Otto Bauer an
der Spitze hatten sich in der Partei durchgesetzt
und bestimmten den Kurs. Die innerparteiliche
Opposition der „Neuen Linken“ hatte 1924
keinen Platz mehr in der ,,Familie der Sozial¬
demokratie“.

Otto und Käthe Leichter hatten sich von diesen
ihren ehemaligen Genossen getrennt. Sie blie¬
ben in den Reihen der Partei. 1921 heirateten
sie. 1925 wurde Otto Leichter Redakteur bei der
Arbeiter-Zeitung, und Käthe Leichter betraute
man mit dem Aufbau des Frauenreferates der
Arbeiterkammer. Dadurch konsolidierte sich
die finanzielle Situation der Familie, und der
Sohn Heinz erlebte die ersten zehn Jahre seines
Lebens in materiell und emotional gesicherten
Verhältnissen. So schildert er es in den ersten
Kapitel seines Buches.

„Erste Erinnerungen“ sind mit der Köchin und
mit dem Großvater mütterlicherseits verknüpft.
Das bietet Anknüpfungspunkte für Fragen und
Überlegungen: Da beide Eltern berufstätig wa¬
ren, wurde Heinz in den ersten Lebensjahren
von Dienstboten betreut. Obwohl er sich selbst
im Kapitel „„Unser Haushalt“ gegen diesen
Ausdruck und den damit verbundenen ‚„ernied¬
rigenden Beigeschmack“ ausspricht, bleibt die
Tatsache besteht, daß die Familie Leichter eine
bürgerliche Familie war und Dienstleistungen
für die Befriedigung der primären Bedürfnisse
in Anspruch nahm. Wichtig ist dieser Hinweis
auch im Hinblick auf die starke Orientierung an
Käthe Leichters ,,Lebenserinnerungen“, die
H.O. Leichter bei seinen Kindheitserinnerun¬

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gen nicht verleugnen kann und will. Die ,,Le¬
benserinnerungen“ von Käthe Leichter ent¬
standen, als sie 1938 im Wiener Landesgericht
in Untersuchungshaft war, und durch glückli¬
che Umstände konnten die Schriften hinausge¬
schmuggelt werden und erhalten bleiben. Darin
bezeichnet sie gerade die Erfahrungen mit den
Dienstboten in der eigenen Familie als ,,erstes
soziales Erleben“. Während Käthe Leichter die
Behandlung der Dienstboten in der eigenen el¬
terlichen Familie als unsozial schildert, streicht
ihr Sohn die enge Beziehung der ,,Hausange¬
stellten“ v.a. zu Käthe Leichter und ihre ‚‚An¬
hänglichkeit“ an die Familie hervor. In den
Jahren nach 1934 zeigten einige der Frauen eine
große Loyalität gegenüber den polizeilich ge¬
suchten und illegal tätigen Leichters.

Die zweite Figur in den ‚Ersten Erinnerungen“
ist der Großvater mütterlicherseits. Auch hier
tritt der starke Einfluß von Käthe Leichters
„Lebenserinnerungen“ zutage. H.O. Leichter
schreibt, daß er eine viel stärkere Beziehung zu
seinen Großeltern mütterlicherseits, den Picks,
besonders zu seinem Großvater Dr. Josef Pick,
der bereits 1926 starb, verspürt als zu seinen
Großeltern väterlicherseits, den Leichters, die
die Picks überlebten. Über diesen Zweig der
Familie existieren nur spärliche Dokumente
und Aussagen. H.O. Leichter erwähnt dazu in
dem Kapitel „Die Familie meines Vaters“, daß
dieser nicht oft und nicht gerne über seine eige¬
ne Kindheit sprach. Käthe Leichter hingegen
hat ihre Kindheit sehr beeindruckend beschrie¬
ben und das sehr starke emotionale Verhältnis
zu ihrem Vater, sie war ein ,, Vaterkind“ , mach¬
te ihn fiir die nachfolgende Generation ,,leben¬
diger“ als die Verwandten väterlicherseits.
H.O. Leichter beschreibt das Leben seiner EI¬
tern, als „„dem Proletariat geweiht“. Dennoch
sind die emotionalen und geistigen Beziehun¬
gen zur großbürgerlichen Familie Pick viel stär¬
ker als zu den eher kleinbürgerlichen Leichters.
Vermutlich war es für Menschen, die sich so
stark mit der austromarxistischen Ideologie
identifizierten, nicht immer leicht, ihr Leben
und ihren theoretischen Anspruch in Einklang
zu bringen. H.O. Leichter beschreibt im Kapitel
„Hauptschule“, wie er sich, um in der Klassen¬
gemeinschaft nicht als Außenseiter zu gelten,
ein Loch in die Jacke reißt und so das bürgerli¬
che Outfit ein wenig ,,ankratzen“ will.

Die jiidische Herkunft wird ein weiteres Span¬
nungselement im Leben der Leichters gewesen
sein. H.O. Leichter erwähnt die eingeschränk¬
ten Aufstiegschancen seiner Eltern innerhalb
der Parteihierarchie, da sich die sozialdemokra¬
tische Partei nicht noch stärker dem „‚jüdisch¬
bolschewistischen Vorwurf“ aussetzen wollte.
Feststeht, daß Käthe und Otto Leichter selbst
nur mehr mit Resten der jüdischen Religion
aufgewachsen sind. H.O. Leichter und sein
1930 geborener Bruder Franz waren beide kon¬
fessionslos und erlebten offenbar keine einzige
religiöse oder traditionell jüdische Handlung
im Familienkreis. Es wurden vielmehr christli¬
che Festtage wie Weihnachten oder Ostern,
wenn auch ohne religiösen Inhalt, gefeiert.

Im Unterschied zur Religion war Bildung ein
zentraler Wert. H.O. Leichter bezeichnet das

Lesen-Lernen als das wichtigste Erlebnis in der
Volksschule. ‚‚Im Alter von zehn Jahren hatte
ich beinahe den ganzen Schiller und die meisten
von Goethes Stücken gelesen, dazu Überset¬
zungen von Moliere, Mark Twain, Lewis Car¬
rol und Upton Sinclair.“ Die Eltern, selbst sehr
belesen, förderten die beiden Söhne und sorgten
auch während der Zeit des Aufenthalts in Zü¬
rich 1934 und nach 1938 in Frankreich bzw.
1939 in den USA für eine sofortige Fortsetzung
des Schulbesuchs. Trotzdem ist man über¬
rascht, wenn man liest: „Meine erste Begeg¬
nung mit dem Kommunistischen Manifest fand
jedoch erst statt, als ich zwölf Jahre [!] alt war
und man mir zutraute, es verstehen zu können“.
1934 brachte die erste große Veränderung.
Nach den Februarkämpfen schliefen Käthe und
Otto Leichter bei Freunden, und im März fuh¬
ren zuerstsie und später die Kinder nach Zürich.
Was eine traumatische Erfahrung werden hätte
können, erlebte H.O. Leichter als Abenteuer. Er
fand sich schnell in seiner neuen Umgebung
zurecht und lernte seinen Aufenthaltsort regel¬
recht lieben. Diese schnelle Anpassung an eine
neue Umgebung wiederholt sich auch bei den
späteren Stationen der Flucht. In den Beschrei¬
bungen anderer Flüchtlinge wird die Flucht
meist leidvoller empfunden. Möglicherweise
erlebt ein Kind, das zumindest mit einem EI¬
ternteil zusammen ist, solche Ereignisse eher
als Abenteuer denn als Schrecken.

In den nächsten Kapiteln schildert H.O. Leich¬
ter die Zeit von 1934 bis 1938, in der die Familie
in Mauer bei Wien lebte und die Eltern in
illegalen Organisationen tätig waren. Er selbst
besuchte zuerst ein halbes Jahr die Hauptschule
und stieg dann in die zweite Klasse des Gym¬
nasiums um. Die Erfahrungen mit der illegalen
Tätigkeit seiner Eltern und die besonderen Le¬
bensumständen beschleunigten seine Entwick¬
lung zweifellos, aber er führte auch Bubenstrei¬
che aus und freundete sich mit Mitschülern an.
Erst 1938 kam der „Zweite Wendepunkt“.
„Das tägliche Leben unter den Nazis hatte sich
drastisch verändert.“ Otto Leichter floh Ende
März zuerst in die Tschechoslowakei und spä¬
ter nach Zürich und Paris. Ende Mai wollten
Käthe undH.O. Leichter ebenfalls mit gefälsch¬
ten Pässen in die Tschechoslowakei fliehen,
aber ihr Plan wurde verraten und Käthe Leichter
verhaftet. Während die Mutter im Gefängnis
saß, gelang es einer ehemaligen Hausgehilfin,
den kleineren Bruder Franz aus Österreich hin¬
aus und zum Vater nach Paris zu bringen. H.O.
Leichter erhielt unterdessen die Ausreisegeneh¬
migung und durfte seine Mutter im Gestapo¬
Hauptquartier am Morzinplatz besuchen. Da¬
nach fuhr er nach Zürich, wo er seinen Vater
wiedersah. Die weiteren Stationen der Flucht
waren Paris bis 1940, Montauban, Spanien,
Portugal und von Lissabon mit dem Schiff nach
New York.

„Die neue Welt“ empfing die Familie Leichter
nicht nur freundlich. Während H.O. Leichter
und sein Bruder durch die finanzielle Hilfe
eines Flüchtlingskomitees ein Internat besu¬
chen konnten, blieb der Vater in New York,
suchte sehr lange eine Arbeit und lebte in eher
bescheidenen Verhältnissen. Daneben lastete