denn mir fällt dazu der Brechreiz ein, der der Lähmung vorausgeht.“
Mir wurde das schon sehr früh gesagt, in verdeckter Form, von meiner herzensklu¬
gen Großmutter. Jeder kennt den Satz ‚Alles verstehen, heißt alles verzeihen.“ Meine
Großmutter drehte den Satz immer gleich um: ‚Alles verzeihen, heißt gar nix verste¬
hen.“
Die Genauigkeit einer erinnerungskritischen Sicht, die ich mir von diesem Sympo¬
sion erwarte, verhindert, daß wir uns durch Mitgefühl entlasten.
Ich möchte den Organisatorinnen und Organisatoren sehr herzlich für ihr Engage¬
ment bei der Konzeption des Symposions danken, und ich wünsche Ihnen einen
erfolgreichen Verlauf der Tagung.
Exil heißt unter Menschen leben, deren Gedanken, Wünsche und Ziele man nicht teilt.
Nach 1945 war unser, meines Mannes und mein eigenes Hauptinteresse zu verste¬
hen, wie es zu Auschwitz kommen konnte. Hatte es unter anderen Kulturvölkern
ähnliche Ausbrüche von Xenophobie gegeben? Waren alle Menschen imstande unter
gewissen Umständen Greueltaten zu begehen, und wenn ja, unter welchen Umständen?
Wie kam es, daß sich die Träume der zwanziger Jahre in den Alpdruck der vierziger
Jahre verwandeln konnten? Wir waren fest davon überzeugt, daß es früher oder später
zu einer Wiederholung kommen könne, wenn man versäumte, die ökonomischen,
sozialen und psychologischen Ursachen der deutschen Tragödie zu erforschen.
Nur selten war es möglich, derartige Fragen mit unseren englischen Nachbarn oder
Arbeitskollegen zu erörtern. Die meisten von ihnen waren vollauf mit den Problemen
beschäftigt, die die Umwandlung eines Weltimperiums in einen kleinen europäischen
Staat mit sich brachte. Folglich hatten wir nur spärlichen Kontakt mit den Menschen
in unserer Umwelt und unser Freundeskreis bestand fast ausschließlich aus Exilanten.
Wir verbrachten unsere Zeit in England in geistiger „‚splendid isolation“.
Für mich endete das Exil im Flugzeug nach Israel. Neben mir saß ein ganz besonders
unhöflicher Glaubensgenosse, mit dem ich die ganze Flugdauer debattierte, ob Juden
die Pflicht hätten, sich im Ausland besonders gut zu benehmen, oder das gleiche Recht
aller anderen Menschen hätten, zu tun und zu lassen, was sie selber für angemessen
hielten. Das Debattieren hat seit damals nicht aufgehört; ich treffe täglich mit Menschen
zusammen, deren Ideen und Gedanken ich mißbillige, deren Interessen ich aber teile.
Nun stehe ich endlich mitten im geistigen Leben meiner Umgebung. Zahlreiche
Archive und Dokumentensammlungen machen es möglich, meinem Steckenpferd
nachzugehen und zu erforschen, wie und in welchem Maße meine Vorväter von
Antisemitismus betroffen waren. Aber noch interessanter als das Leben meiner Vorvä¬
ter finde ich das Schicksal meiner Vormütter. Es scheint, daß nicht nur Antisemitismus,
sondern auch Antifeminismus sich nicht ständig auf der gleichen Ebene bewegten.
Ökonomische und soziale Umstände bedingen auch hier Tiefen und Höhen.
Der Einfluß von Frauen stieg immer, wenn das Einkommen der Familie sank und
sie Mitverdienerinnen oder Hauptverdienerinnen werden mußten, während Bürgerfrau¬
en, in teure Gewänder gehüllt, einzig und allein die Aufgabe hatten, als Statussymbol
ihrer erfolgreichen Männer zu fungieren.
Da Juden, durch ständige Ausweisungen und Verfolgungen, sich häufig in ökono¬
mischen Zwangslagen befanden, ist es kein Zufall, daß Jüdinnen weit mehr als andere
Frauen im Erwerbsleben standen und daß es sehr oft gerade jüdische Frauen waren, die
als erste in Berufe eindrangen, die bis dahin den Herren der Schöpfung vorbehalten
waren. Exil verursachte, daß 1419 eine gewisse Sarah die erste Frau im deutschspra¬
chigen Gebiet war, der eine Lizenz erteilt wurde, als Ärztin zu arbeiten. Exil verursach¬
te, daß Abigail Minis 1740 als erste Frau in Amerika ein Geschäftsimperium führte.
Exil brachte es mit sich, daß Lina Stern als erste Frau eine Professur an der Universität
Genf erhielt. Exil führte es mit sich, daß ich und meine Exilkolleginnen über berufliches
Fortkommen debattierten, während viele meiner englischen Altersgenossinnen Koch¬
rezepte und Strickmuster austauschten.