OCR
schied, als sie auf einem mit dem Roten Kreuz gekennzeichneten Lastwagen weggebracht wurden. Es war schon Ende März 1945, und es gab Gerüchte, daß die Front näherkomme und das Lager aufgelassen werde. Mit jedem Gerücht kam das Zittern. Was würde mit uns geschehen? Würde es das Ende bedeuten? Jede Veränderung bedeutete üblicherweise eine Verschlechterung unserer ohnehin schon geringen Chancen, zu überleben. Um den 1. April herum wurden wir, wie erwartet, aus dem Lager gebracht und wieder auf Lkws verladen. Man brachte uns nach Mauthausen zurück, aber diesmal in einen anderen Teil des großen Konzentrationslagers, in das völlig verlauste Zeltlager. Ich war in diesem menschlichen Inferno nur etwa drei Wochen. Gegen Ende des Krieges führten die Nazis noch eine Massendeportation ungarischer Juden durch. Die meisten schickte man zwecks rascher Liquidierung nach Auschwitz, aber eine beträchtliche Zahl auch nach Mauthausen. Da dieser Ort in Österreich lag und nicht in Polen, das als Hauptgebiet für die Ermordung von Juden vorgesehen war, waren hier die Vernichtungseinrichtungen viel kleiner und so wurde das Lager mit Magyaren überschwemmt. Das als Übergangslösung gedachte Zeltlager bestand aus großen Zelten, die keinen Schutz vor dem Wetter boten. Wir schliefen, wo wir konnten, zugedeckt mit dem, was wir fanden. Die große Mehrheit im Lager bildeten, wie gesagt, die Ungarn. Ihre Sprache schien mir komisch. Sie hatten noch Dinge bei sich, die sie von zu Hause mitgenommen hatten. In diesen letzten Tagen des Krieges achteten die Nazis kaum mehr auf ihre deutsche Zucht und Ordnung. Zu dieser Zeit schlossen wir uns in einer Gruppe polnischer Jugendlicher zusammen. Die ethnischen Gruppierungen blieben unter sich. Wir lernten aber doch eine ganze Menge Ungarisch, und ich habe mir bis auf den heutigen Tag gemerkt, was ich damals aufgeschnappt habe. Zwischen uns, den ,,Lengeles“, den polnischen Juden, und den Ungarn kam es bald zu Spannungen. Das Streitobjekt waren die Decken. Sie hatten welche, und wir brauchten dringend welche. Die Nächte waren kalt und wir hatten nichts, um uns zuzudecken. Bei den Ungarn hatte jeder mehrere Decken. Da sie uns keine gaben und auch nicht gegen Lebensmittel tauschen wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als sie ihnen zu stehlen. Und davon stammten die Läuse, die sich in den gestohlenen ungarischen Decken anscheinend noch schneller vermehrten. Ich mußte mich ständig kratzen, und auch das Waschen mit kaltem Wasser half kaum. Wir gingen sogar freiwillig zur Entlausung, aber auch das half nur kurze Zeit. Das Leben im Zeltlager war monoton. Wir wurden einem Arbeitskommando zugeteilt, aber es gab keine regelmäßige Schichtarbeit mehr. Die Rationen waren sehr knapp, wir wußten jedoch, wie man hungert. Die Ungarn wußten es nicht. Sie litten mehr als wir. Anfang April 1945 kam es zu einem weiteren tragischen Ereignis. Eines Morgens führten die Engländer in der Nähe einen Bombenangriff durch, eine Bombe fiel zufallig auf unser Zeltlager und tötete viele Menschen. Nach der Explosion der Bombe brach Panik aus und die Menschen liefen auf die unter Hochspannung stehenden Zäune zu. In dem Tumult wurden Menschen gegen die Zäune gedrückt und kamen um. Daraus entwickelte sich noch Schlimmeres: Fälle von Kannibalismus. Manche der Hungernden hatten alle menschlichen Grundsätze aufgegeben und aßen die Leichenteile auf, die in den Zäunen hingen. Es ging uns sehr schlecht in diesem Lager. Es wurde so schlimm, daß wir, die polnisch sprechenden jüdischen Jugendlichen, uns freiwillig meldeten, um aus diesem Zeltlager herauszukommen. An einem sonnigen Morgen marschierten wir zu Fuß aus Mauthausen hinaus. Unser Ziel war uns unbekannt. In die Öfen oder in die Freiheit? Wir bemerkten viele Veränderungen. Als wir durch österreichische Siedlungen und Dörfer gingen, fiel uns eine ungewöhnliche Stille auf, so als ob es sich um die Ruhe vor dem Sturm handelte. Die Nazis hatten ihren ganzen Mut verloren. Von Marschmusik keine Rede, man sah nur mehr vereinzelte Losungen, die an die Wände gepinselt waren. Die Wachen, die uns auf dem Marsch begleiteten, waren keine forschen SS-Leute mehr, sondern ältere Veteranen, die jetzt beim Volkssturm waren, Männer in den Vierzigern und Fünfzigern. Nur die Anführer waren noch SS-Leute, und, anders als früher, hielten sie sich eher im Hintergrund. Die alten Veteranen wurden mit der Zeit sogar gesprächig. Sie wollten gerne mit uns plaudern. Als einer von uns spaßhaft fragte: „Was tut ihr, wenn wir versuchen davonzulaufen?“ sagte der alte Herr ein bißchen nervös: „Ich müßte dich töten, auch wenn ich es nicht wirklich wollte, aber Befehl ist Befehl.“ So marschierten wir, eine schmutzige, ausgemergelte Menschenmasse. Zu essen gab es nichts. Nur einmal am Tag, abends, wenn wir anhielten, erhielten wir eine knappe Ration schwarzen, nassen Brotes und lauwarmen Ersatzkaffee, den wir haßten. Um die Wärme zu konservieren, schliefen wir eng beieinander, irgendwo am Rande kleiner Städte, außerhalb der Dörfer. Wir aßen alles, was wir fanden. Die langen, dünnen Gräser, aus denen man eine Flüssigkeit saugen konnte, waren bereits ein „Luxus“. So ging es weiter. Die Schwächeren begannen zurückzubleiben. Unsere Kräfte ließen nach. Wir hörten die Schüsse am Ende der Kolonne und die Worte der Volkssturmleute: ,,Geh weiter oder ich muß schießen!“ Plötzlich erkannte ich in der Menge ein bekanntes Gesicht. Es war Aharon Hersh, der Mann meiner zweiten Kusine Rosia aus der Familie meines Vaters. Er hatte in Baluty im Ghetto gewohnt, ein strammer Kerl und guter Schuhmacher. Jetzt stolperte er nur mehr. Ich versuchte ihm zu helfen. Wir gingen eine Weile miteinander und sprachen von den guten alten Zeiten. Aber am dritten Tag des Marsches begann er nachzulassen. Er konnte nicht mehr weiter. Er dürfte „„galoppierende Schwindsucht“ bekommen haben, denn er hustete so typisch, es war dieser heiser klingende Husten. Ich versuchte ihn zu stützen und anzutreiben: ,,Mach weiter, Aharon, nur mehr ein paar Stunden heute!“ Aber er glitt mir aus meinen schwachen Händen. Er war immer noch sehr groß, ich konnte ihn nicht tragen. Am späten Nachmittag dieses Tages konnte er nicht mehr und fiel aus der Reihe. Ich trieb ihn an: ,, Mach schon, Aharon, mach schon. Es ist nicht mehr weit!“ Aber es hatte keinen Sinn. Er blieb am Weg liegen. Ich blickte nicht zurück. Nach ein paar hundert Metern hörte ich einen Schuß. Am nächsten Morgen kamen wir in die Stadt Wels, in Oberösterreich. Es war eine größere Stadt und wir gingen durch die Hauptstraße. Es muß um den 20. April 1945 gewesen sein. Präsident Roosevelt war gestorben, aber wir wußten natürlich nichts davon. In den Straßen von Wels drängten sich alle möglichen Leute. Flüchtlinge aus den benachbarten Städten und Dörfern und wahrscheinlich auch aus Deutschland, geflüchtet vor den vorrückenden sowjetischen Truppen. Die meisten dieser Leute wußten inzwischen schon, daß der Krieg zu Ende ging. Sie hatten verloren. Ihre Träume von einem Leben als ‚höhere Rasse“ waren dahin. Die Vorstellungen, ein tausendjähriges Reich zu gründen, hatten sich als Hirngespinste erwiesen. Aber sogar jetzt, als für sie alles verloren war, spuckten sie uns noch an und warfen uns ihre schmutzigen Flüche entgegen: „Ihr dreckigen Ju33