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den! Wir dachten, euch gebe es nicht mehr.“ So begrüßte uns Wels, nur wenige Wochen vor Kriegsende. Als wir Wels hinter uns gelassen hatten, hatten wir das Gefühl, wir müßten bald unser Endziel erreichen. Die SSler und besonders die Volkssturmleute waren müde. Wir zogen durch ein Dorf. Wir kamen an einer Scheune vorbei. Was ragte da aus einem Holzschuppen? Menschliche Füße. Sogar Schuhe hatten sie noch an. Ein Toter neben dem andern. Reihe über Reihe. Mich ergriff große Furcht. „„Das war’s!‘“ dachte ich. Sie würden uns bei irgendeinem Bauern in den Hof führen und uns dort umbringen. Man hörte schon die Kanonade der herannahenden Frontlinie der Alliierten. Aber wir gingen weiter, durch das nächste Dorf und dann das nächste. Wir kamen in einen düsteren Wald, aber die Straße war immer noch breit. Einige Zeit später kamen wir zu einer Lichtung, eine Art Holzfällerlager mit dem Namen Gunskirchen, benannt nach dem nächstgelegenen kleinen Dorf. Der Ort war voller Ungarn. Überall roter Schlamm. Die Blockhäuser waren offensichtlich in Eile gebaut worden und sahen alle ähnlich aus. Sie waren reihenweise angeordnet, es gab keine Böden, bloß Schlamm. Es gab ein Wasserrohr für je zwei Blockhäuser. Es regnete, tagelang. Wir bildeten in einem der Blockhäuser eine nichtungarische Enklave, zogen unsere nassen Kleider aus und saßen oder lagen dort fünf oder sechs Tage herum. Ein Tag war dem andern so ähnlich, daß ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Und immer noch mehr Regen und Dreck. Die Brotrationen wurden immer kleiner, und die hungernden Magyaren in ihren einst eleganten Kleidern bildeten eine höchst makabre Kulisse. Nachts gab es keinen Strom. Um mich herum Dunkel und Feuchtigkeit und die Läuse und meine hungernden, sterbenden Kameraden. Jeden Tag starben mindestens zwei oder drei. Wir konnten nichts tun und jeder wartete bloß darauf, der nächste zu sein. Es muß sich um Typhus gehandelt haben, der durch Läuse übertragen wurde, denn jeder von uns hatte hohes Fieber und Gelenkschmerzen. Sobald sich einer nicht mehr bewegen konnte und keinen Appetit mehr hatte, war ihm der Tod schon sicher. Wir hörten die Pfiffe zum Zählappell, aber keiner ging mehr hin. Das Ende war so nah. Am achten Tag unseres Aufenthalts in Gunskirchen hörten wir Rufe von draußen, zuerst auf Ungarisch, aber dann auch auf Deutsch. „Die Wachen sind weg! Keine SS mehr! Kein Volkssturm!“ Ich erwachte aus meinem Schlaf im Dreck und ging 34 nach draußen. Neben mir lag ein Bursch namens Korn. Ich wollte, daß er auch aufstehe, er sollte mit mir zusammen hinausgehen. Aber er konnte nicht, das Fieber hatte ihn erfaßt. Also beschloß ich, ihm etwas Wasser zu bringen. Aber als ich aus dem Haus trat, wurde ich von einer menschlichen Woge erfaßt, hauptsächlich waren es Ungarn, die aus dem Lager drängten, hinaus auf die Straße, die aus dem Lager führte. Ich war erstaunt, wie rasch ich noch gehen konnte. Ich lief schneller und schneller und kam zur Hauptstraße. Plötzlich sah ich zu meiner Linken einen riesigen Kastenwagen. Er fuhr auf acht oder sechzehn Rädern. Mir schien es, als ob er hundert hätte. Auf der Seite des Wagens las ich die Aufschrift: ,,US-Army“. Ich war befreit! Wo war Moniek? Würde ich Bronia je wiedersehen? Es war so ganz anders, als ich es erwartet hatte. Kein Willkommensgruß, keine Anlaufstelle. Niemand kam, mich zu begrüßen. Ich ging zur Straße und atmete tief durch. Ich roch die Freiheit. Wenn man seine Bewegungsfreiheit wiedergewonnen hat, ist das nicht gerade die einfachste Sache der Welt. Ziemlich lang noch sah ich um mich, als ob ich den Befehl erwartete, was ich als nächstes zu tun hätte. Aber ich erhielt keinen, ich war frei. Rufe ich mir die Zeit wieder in Erinnerung, scheint es mir, als hätte ich mich in einem Wirbelsturm befunden, der mit meiner Seele durch Zeit und Raum tobte. Eine dämonische Macht hielt mich fest, während ich durch ein höllisches Labyrinth des Leidens getrieben wurde. Kräfte versuchten mich zu zerreißen. Ich wurde den furchtbarsten Bedingungen unterworfen, die auf Erden vorstellbar sind. Die Dauer dieses Erlebnisses hätte alle menschlichen Regungen in mir ersticken können. Die Dämonen versuchten dies zu erreichen, zerrten an mir, um mein Wesen in dem Sumpf einer niedrigen, unterweltartigen Existenz zu versenken, jedoch ließen mich meine Erziehung und die moralischen Grundsätze, die ich nicht aufgab, nicht untergehen. Es soll keiner glauben, daß es nach der Befreiung besser wurde. Es istein Wunder, daß ich nach der Befreiung überhaupt überlebte. Als ich neben der Straße stand, fuhren amerikanische Armee-Lkws an mir vorbei. Sie gehörten wahrscheinlich zu dem berühmten „Red Ball Express“. Die meisten Fahrer waren Schwarze. Benommen und verwundert starrte ich sie an. Bis dahin hatte ich in meinem Leben einen einzigen Schwarzen gesehen. Das war vor dem Krieg, und er war Jongleur in Zirkus Staniewski in Lodz. Jetzt ließ ein schwarzer Soldat, der neben dem Fahrer im Führerhaus eines riesigen Lkw saß, den Fahrer den Wagen langsamer fahren. Er warf mir eine amerikanische Zuckerstange ‚„Fifth Avenue“ zu, die in orangefarbenes Papier gewickelt war. Das war mein erster Kontakt mit Amerika. Die Zuckerstange in der Hand, fiel mir wieder Josif Korn ein, mein Freund, den ich im Blockhaus zurückgelassen hatte. „Ich muß schauen, daß ich zu ihm zurückkomme, und dieses Geschenk mit ihm teilen.“ Ich sah jetzt, daß alle Lagerinsassen zur Hauptstraße und auf ein großes Gebäude zuliefen. Ich wurde wiederum von einem Strom von Ungarn mitgerissen. Im Innern dieses Gebäudes von riesiger Höhe befand sich ein Lager voll mit Fleischdosen und Säcken mit Zucker. Unmengen von Kisten mit Fleischdosen und Dutzende von großen Säcken voller Zucker! Die Insassen begannen sich den Zucker in den Mund zu stopfen und die Dosen zu öffnen. Ich jedoch dachte an Josif Korn. Ich griff mir eine Fleischdose und lief gegen den Menschenstrom zurück ins Lager, aber ich kam zu spät. Josif Korn, der Visionär, der Träumer, der noch einen Tag zuvor so voller Hoffnung und Optimismus gewesen war, war tot. Nur ein Häufchen Knochen, in eine ungarische Decke gewickelt, an die Wand des Blockhauses gelehnt. Im Haus war jetzt niemand mehr. Ich ließ die Fleischdose fallen und lief aus dem Lager ohne zurückzublicken. Ray Eichenbaums ,,Romeks Odysee. Jugend im Holocaust“, aus dem Amerikanischen von Herbert Kolmer und Vladimir Vertlib tibersetzt, ist dieser Tage im Verlag für Gesellschaftskritik, Wien, erschienen. Reihe: Antifaschistische Literatur und Exilliteratur, Band 14. 300 S., 6S 298.-/ DM 43.„Romeks Odysee“ ist eine der wenigen autobiografischen Berichte, die die Kindheit in einem Ghetto schildern. In der Erzählung ‚Bronia“ setzt Ray Eichenbaum seiner im Holocaust umgekommenen älteren Schwester ein Denkmal und in dem Drama um H. M. Rumkowski, den ,,Judenältesten“ des Ghetto Lodz, wird die Frage nach der Verantwortung und der Gerechtigkeit von einem Überlebenden gestellt. Ray Eichenbaum, in Lodz aufgewachsen, 1940 — 1944 im Ghetto, überlebte Auschwitz und Mauthausen. Er emigrierte 1947 in die USA, wo er — nach einem Studium in Wien — als Chemiker arbeitete.