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Josef N. Rudel Um fünf Uhr morgens ging das Gepolter los. Sie luden Bretter ab von den grüngetarnten Lkws, ließen sie zu Boden krachen, pochten und hämmerten, schlugen dicke Nägel in das Holz. Es roch nach Tzuika, dem Pflaumenschnaps, den sie an Stelle des Gerstenkaffees in sich hineingegossen hatten und der sie gröhlen ließ und sich gegenseitig mit unflätigen Worten genußvoll besudeln. Den Soldaten war befohlen worden, in aller Eile den Ghettozaun zu errichten. Er sollte an die vier Meter hoch werden, dieser Zaun, er hatte die Gasse, die halb im Inneren, halb im Äußeren des Ghettos verlief, abzuriegeln. Er hatte das künftige rein christliche Czernowitz vom jüdischen Ghetto zu trennen. Das unüberwindliche, scharf bewachte Tor sollte die Juden einlassen und sie daran hindern, das Ghetto anders zu verlassen als in Reihen geordnet, unter Eskorte, Richtung Güterbahnhof. An diesem Tor und an einigen anderen - hatten sich die Juden der Stadt an dem und dem Tag, zu der und der Stunde einzufinden. Alles was jüdisch war, vom Wickelkind bis zum Zittergreis, bei Androhung der Todesstrafe! Mutter packte bedächtig. Sie ließ ihren praktischen Sinn walten und nahm nur das wichtigste mit. Vater gab Anordnungen, stellte Theorien auf, versuchte uns von Dingen zu überzeugen, an die er selbst nicht glaubte. Praktisch tat er nichts. Ich selbst stellte mir die Sache wie eine Art Abenteuerroman vor, mit Happyend natürlich. Die Deutschen, über die alle herzogen, waren für mich immer noch ein Inbegriff der Korrektheit, wie in den UFA-Filmen dargestellt und in den Büchern aus Deutschland. Ich war sehr naiv für meine achtzehn Jahre. Sonderbarerweise fragte niemand nach „warum“ oder „wohin“. Daß wir wegmußten war eine Fatalität, gegen die man sich nicht auflehnen konnte und das Ziel, obwohl geographisch nebelhaft, war wie man herumsprach, die Umstellung auf physische Arbeit. Begriffe wie KZ, Vernichtungslager oder Gasöfen kamen zu uns wie aus weiter Ferne, wie aus einer anderen Welt. Ich hatte kein bißchen Angst, weiljaMama da war. Ich verließ mich wie immer auf sie, die ja alles Unangenehme auf sich nahm und es aus der Welt schaffte. Ich glaube, Vater hatte dieselbe Lebensauffassung. Meine Mutter besaß, bis zum Ausbruch des Krieges, ihren eigenen Damenhutsalon im Zentrum der Stadt. Eine ihrer ältesten Angestellten, die Susi, wohnte in dem Teil der Stadt, der nun als Ghetto dienen sollte. Sie stellte uns unaufgefordert Schlafplätze zur Verfügung. Das war wichtig. Wir brauchten nicht auf der Straße zu nächtigen. Ich stand vor dem Bücherschrank und überflog die Titel. Da, der große Brockhaus, und Meyers Kunstgeschichte, der große Weltatlas, Werke über Entdeckungen und Erfindungen und hinten, in der zweiten Reihe, ein wenig verstaubt, meine Lieblinge aus der Kindheit, der Robinson, die Karl Mays, die Tarzans und die späteren Freunde, Werfel, Brod, Thomas Mann, Christian Morgenstern... Jemand trat durch die unverschlossene Wohnungstür... Ci vrai, Sergej? fragte Mutter in ihrem gebrochenen Rumänisch. Sergej, ein ukrainischer Bauernjunge machte seinen Militärdienst als Ordonnanz des Herren Obersten. Er trug die grüne, haarige Kommißhose, darüber ein Hemd aus grobem Leinen, ohne Kragen und Knöpfe. Er ging barfuß. Der Oberst war Rumäne deutscher Abstammung. Sein Vorfahr war im Gefolge des Karls von Hohenzollern-Sigmaringen, des ersten rumänischen Königs, mitgekommen und hatte, wie alle Männer der Familie, die Militärkarriere gewählt. Jetzt stand er vor der Pensionierung. Er war Junggeselle geblieben, aus Egoismus oder aus Bequemlichkeit, und zog eine möblierte Zweizimmerwohnung mit dem Offiziersdiener einem geregelten Haushalt vor. Wenn er Sonntags, ohne Sergej im Gefolge (dieser hatte seinen freien Tag) das Appartement verließ, in Hochgala, mit rotem Federbusch an der Mütze, die frischgewichsten Lederriemen über die gewölbte Brust gekreuzt, mit blitzblanken Stiefeln und der behandschuhten Linken am Säbelknauf, blieb die ganze Nachbarschaft mit aufgesperrten Mäulern stehen. Ich war auch einer seiner Bewunderer. Der Oberst war für mich das Sinnbild der sozialen Oberschicht, der Herrschaft, der Staatsgewalt. Sein Bursche Sergej war ihm treu ergeben. Er kochte ihm die erlesensten Mahlzeiten nach den Rezepten der jüdischen Nachbarinnen, wusch die Wäsche, bügelte die Uniform... und bestahl seinen Herren wo er nur konnte, besonders bei den Einkäufen. Den erzielten ‚Verdienst‘ verbarg er in einem alten Strumpf und gönnte sich nicht einmal das geringste Vergnügen, da er vorhatte, nach Beendigung des Dienstes in seinem Dorf ein Stück Boden zu erstehen und seine Jugendliebe Saweta zu ehelichen. Was möchtest du, Sergej, fragte Mutter zum zweiten Mal. Die Bücher, melde gehorsamst. Seine Blicke glitten, das Gewicht abschätzend, über die Regale. Was für Bücher? Wozu? Melde gehorsamst... alle Bücher hat befohlen Herr Oberst. Ich trat einen Schritt zurück und stellte mich wie schützend vor den Schrank. Herr Oberst sagt wird sein eine schwere Winter, sehr kalt Holz nix da, Kohle nix da, soll ich heraufbringen alle Bücher. Weil sie werden nicht mehr brauchen Bücher dorten wo man wird sie schicken, melde gehorsamst... Ich erschauerte. Mama... er... er will sie verheizen! Mutter zog die Stirne in Falten und nickte ohne mich anzusehen. Vater spuckte in die Richtung der Biicher. Bestimmt wollte er damit ausdrücken, daß ihn das von allem am wenigsten berührte. Dennoch sagte er: Verbrannt soll er werden zusammen mit die Bücher. Sergej hatte bereits ein Regal geleert und die Bücher in den mitgebrachten Sack geworfen. Ich fühlte jetzt nichts mehr, weder Ärger, noch daß es mir irgendwie leid tat. Als wären es nicht Bücher gewesen, sondern Holzscheite, die da verbrannt werden sollten.