Theodor Kramer-c/o Mre Fe 6 Manor Road Guildford I.
Herrn Walther Jary, 6.10.1956,
—Hien Xi
Semperstrasse 19/14;
Sehr geehrter Herr Jaryl
Ihr Brief vom 1.d.M. erreichte mich, obwohl er zwei Adressen
trug, die des College und meine frühere Privatadresse; Dass
ich.als Anigrant in Oesterreich vergessen wurde, ist mr
natürlich. Vor lo Jahren erschienen inWien jedoch zwei Gedicht“
+bände von mir,Aus valutarischen Gründen konnten sie damals nicht
nach Westdeutschland verkauft werden, wo ich früher bekannt war;
dann wurden sie eingestampft,weil ich nicht das Geld hatte, die
Restauflage zu erwerben; Fast wundert es mich, dass mich in
Oesterreich noch jemand kennt“Bies mag nun vielleicht anders
werden.Mivhael Guttenbrunner, Wien VII.Lindengasse 57/6, mir
perstn}ich nicht bekannt, gibt nun im Verlag Otto Miller,
Salzburg, eigen Auswahlband meiner Gedichte''Vom Schwarzen Wein"
heraus: Dass ich abermals in Vergessenheit gerie?, hat mich
sehr verbittert.Seit Jahren chronisch krank, von Neujahß bie
zum Hochsommer yon.einem Fussleiden so behändert, dass ich kaum
ins College konnte, Beit vier Monaten von einer Faciallähmung
entstellt, züerst kaum der Sprache mächtig una zimmerreiner
Nahrungsaufnahme,hi#1t mich vor allen #ie Verachtung aufrecht,
‚die Verachtung der Lobhudelei und der Freunderlwirstschaft, die
auf dem@ehiet der Literatur mun in meiner Heimat sich breit macht.
Ich konnte mir selbst durch neue Ardeiten beweisen, dass ich
auch in diesem Zustand noch immer stärkeres und interessanheres
schreiben konnte als die meisten, deren Bücher II
seit Jahren gedruckt und gepriesen wurden)
Kostspielige Diät, nicht zugelassene Medikamente, warme doch
nicht wollene Unterwäsche, eine neue Schreibmaschine- die alte
hatte nach 23 Jahren ausgedient,- ich hätte mir dies nicht
leisten können, wäre mir nicht ein Förderungspreis zuerkannt
worden,Wie es weitergehen sollen, weiss ich nicht.
Die Aufnahme zeigt mich mır wenig entstellt, da sie in der
Art School hier gemacht wurde, äie wohl das beste Dpt im ganzen
UK hat.Das Passbild ist aber so scheusslich, dass nach einigen
Wochen noch ein amderes gemacht wird; ein Parabild mies bestimmten
Vorschriften entsprechen:
Unachwer können Sie einen alten treuen Bekannten von mir eprechen,
wenn Sie Näheres wissen wollen über mich,Dr Otto Zenker, der
das Antiquariat Deuticke leitet.Guttenbrunner ist ein Kenner
meiner Arbeiten, und ich vordanke es nur seinen jahrelangen
selbstlosen ungestünen Bemühungen, dass nun ein Auswahlbhnd
erscheint; er ist aber sehr schwer zugänglich,Eine Veröffent¬
-Lichung eines meiner beiden unveröffentlichten Bände wre mir
freilich lieber gewesen.Ungeordnetes, zuifeil ungfeältes Material
für sechs andere Bände ist vorhanden,zum Teil nicht einmal
getippt.Denn das Tippen fällt mir schr schwer - Fibrositis in
der Schulter,Osteo Arthritis in den Halswirbeln -, und Papier,
Karbonpapier una Farßänder wären eine enorme Ausgabe, auch wenn
- eine alte Bekannte,die hier in der Prombäz lebt, Zeit finden
sollte, sie zu tippen( “ann, dred Kinder, arm wie eine Kirchen¬
muss).
Ich muss Sie aufmerksam machen, dass ich keine TI.
Handschrift habe, dass sie fast jedesmal. eine andere ist. Eine
Unterschrift hab ich mir angewöhnt, da ich im ersten Weltkrieg
fast verhaftet worden wäre, da die Abrechnungen stets eine
andere zeigten unä Verdacht auf #älschüng festand. Damals
retteten mich meine Tagebücher, die bewiesen, dass ich stets eine
andere Schrift hatte,
Das Gedicht ist unverdffentlich®$ es ist wohl vor drei oder
vier Jahren geschrieben worden, Vier Uhr rah ist eine Stunde,
der viele meiner “edichte gewddment sind, Liebesgedichte,
Altersgedichte,@ullaschhüttengedichte usw usw.
Ihr Brief hat mich gefreut; ich glaube zu spüren, dass Sie
mine Radlichkeit und Unabdingbarkedt als Dichter ebenso
schätzen wie die Begabung, die verpflichten sollte zu solcher
"#altung. Schliesslich wird niemand gezwungen, @edichte zu schreiben;
er kann ja was anderes tun. |
Wenn Sie Lust habems,lassen Sie wieder und Näheres von sich
Mit den besten Amffehlungen Haan)
Handgeschrieben: Die Hacht ist fahl schon ausgebrannt...
Photo (Art Schoäl Guiläfiord. September 1956.)
Brief Theodor Kramers vom 6.10. 1956
an Walther Jary, der ihn auch um einen
Autographen und ein Foto gebeten hatte.
Strategie, mit der Angst umzugehen: Er will sie in Verse bannen. Ich schlage vor, diese
Angst als Movens für den ab 1938 neu auftauchenden Themenkreis ,,Leises-Stilles¬
Leeres“ zu verstehen, aus dem sich die Figur der „‚Leeren Entitäten“ entwickeln wird.
Die Angst, die Kramer thematisiert, entspricht der existenzial-ontologischen Analyse
von Angst durch Martin Heidegger. Danach ist die Angst eine Grundbefindlichkeit des
Daseins.’ Im Gegensatz zur Furcht, die einen konkreten Gegenstand, Anlaß hat‘, ist die
Angst nach Heidegger eine Bedrohung die aus dem Unbestimmten kommt’, die aus
dem Dasein selbst resultiert.‘ Angst entsteht durch die Gefahr der Unbedeutsamkeit
des (eigenen) Daseins.’ Das „Nichts und Nirgends“ stellt das Dasein in Frage.® Diese
Grundbefindlichkeit der Angst läßt die alltägliche Vertrautheit mit der Welt zusam¬
menbrechen und führt zu einem vereinzelten Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein.” So
ängstigt man sich vor der Unheimlichkeit in der Welt, die im Nichts und Nirgends
ausgelöst wird.!" Über diese Angst beginnt Kramer zu schreiben. !! Sie läßt sich deutlich
von einer Furcht vor einer konkreten Bedrohung unterscheiden. Angst und bang ist
Kramer vor der Unheimlichkeit; wenn er schlaflos liegt, wenn er alleine, auf sich selbst
geworfen ist.'? Furcht vor etwas äußert er hingegen selten.'? Auslöser für dieses
Empfinden existentieller Angst ist sicherlich die Situation der Bedrohung und Verfol¬
gung, die zu der Entfremdung und Vereinzelung als Bedingung der Möglichkeit dieser
Angst führt. Er beschreibt dieses Phänomen der existentiellen Angst anhand eines
radikalen Beispieles, nämlich sich selbst. Zugleich sucht er nach einer Möglichkeit,
diese Angst zu bewältigen. In der Unheimlichkeit der Welt versucht er die Bedrohung
durch das „Nichts und Nirgends“ der Angst, durch eine verblüffende und innovative
Strategie abzuwenden. Indem er das ‚Nichts und Nirgends“, das ‚„‚Es-war-nichts“ der
Angst zum ,,Es-ist-Etwas“ wendet, gelingt es ihm, dem Nichts zu widerstehen, indem
er die Angst in Verse bannt.'*
Um die Entfaltung der Angstthematik sichtbar zu machen, werde ich zuerst den
Gedankenkreis „Leises-Stilles-Leeres“ vorstellen, um die sich daraus entwickelnde
Figur der ‚‚Leeren Entitäten“ einführen zu können.
„Du saßt lässig da im Leisen“', so charakterisiert Kramer die Atmosphäre einer
Begegnung mit einer Freundin nach langer Zeit in Nach einem Wiedersehen". Die
geschilderte Wahrnehmung der Gesprächspartnerin ordnet ihr Sicherheit und eine
ausgeglichene Persönlichkeit zu. Zugleich baut sich auch eine Distanz auf, die das
lyrische Ich nicht überbrücken kann. Die ‚im Leisen“ Sitzende spricht sicher und
warm, ist aber zugleich auch unerreichbar. Das ,,Leise“ steht hier fiir einen Ort, an dem
das lyrische Ich nicht teilhat, ihn aber sehnsuchtsvoll anstrebt. Das „Leise“ ist ein Ort,
in dem Sicherheit entfaltet werden kann, wie es die Gesprächspartnerin zeigt.
Bis 1938 greift Kramer nicht mehr auf das Motiv des Leisen zurück. Dann aber, in
den Ausreisegedichten, taucht das Wortfeld häufig auf: Kramer schreibt von „im
Leisen leben“ '7, vom „leisen Wort“ '8, vom „im Leisen“!?. Auffallend ist, daß sich
die Bedeutung im Vergleich zu Nach einem Wiedersehen gewandelt hat. ‚Im Leisen
leben“ ist jetzt negativ besetzt, ein Ausdruck des Lebens in Desintegration und
Entfremdung. Das wird in Ich weiß, ich wär nicht fähig auszureisen””, in dem Kramer
dem Leisen das Stille und die Leere gegenüberstellt, deutlich. ‚„‚Im Leisen Leben“ steht
hier für die ihn überkommende Depression, für seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu
treffen und etwas ihn befriedigendes zu tun. Leises steht hier für den Mangel an Leben,
Lebenskraft.
Im direkten Gegensatz dazu steht die Verwendung des ‚‚leisen Wortes“ in Andre,
die das Land so sehr nicht liebten?'. Das „leise Wort‘ ist Kramers Wort, so charakte¬
risiert er seine eigene Art zu dichten. Und daran läßt er selbst in den hoffnungslosesten
Augenblicken keinen Zweifel: dieses Wort ist gut und vorbildlich.” „‚Leises Wort“
wird als positive Auszeichnung benutzt, die einen fast moralischen Charakter be¬
kommt, da „leises“ mit „wahr“ gleichgesetzt wird.
Die verlorene Bedeutung als Zuflucht und Sicherheit, die ,,Leises“ in Nach einem
Wiedersehen trug, wird nun dem „Stillen“ zugeordnet. In Ich weiß, ich wär nicht fähig
auszureisen ist dies in der Gegenüberstellung von ‚‚Leises“ und ‚‚Stilles‘ deutlich. ‚Im
Stillem wär ich manches noch imstande“? heißt es und wird damit Träger der
Sehnsucht nach Geborgenheit und lebensfreundlichen Umständen. Freunde brachten
ihn in ein „stilles Haus“ ”*, also in Sicherheit vor den lebensfeindlichen und bedrohli¬
chen Umständen in Wien.
Doch ist die Bedeutung noch nicht festgelegt. Zu seinen Gefühlen nach seinem
Selbstmordversuch schreibt er: ,,in mir ist alles still“, was inhaltlich korreliert mit:
„so lebe ich seit Wochen schon im Leisen“?®. Die positive Besetzung von Stille als