einer besonderen Form von Ruhe, nämlich Ruhe in Geborgenheit, erhält Stille durch¬
gängig erst im Spätwerk. „Könnt ich still sein, ja das wär das wahre“ ?”, ‚Uns beide,
Hand in Hand, überkommt die Stille“ ®. Als Vergleich sei auf Die Kamille? verwiesen:
„Rührst du leicht an meiner Schulter, / steht ein Schein blaß auf und glüht; / und ich
pflück dir in der Stille, / die süß duftet, die Kamille“ 30 Hier zeigt sich wie bei ‚„‚Leises“
in Nach einem Wiedersehen eine Ambivalenz, denn zum einen liegt die wirklichkeits¬
bezogene Bedeutung von Stille noch eindeutig vor, andererseits wird sie schon andeu¬
tungweise als emotionaler Zustand der Geborgenheit eingeführt, ohne daß darauf
allerdings der Schwerpunkt liegt.
In dem auf seine Exilsituation bezug nehmenden Gedicht Spätes Lied *! greift
Kramer noch einmal die bedrohliche Extension des Stillen auf: ,,Stilles mit mir still zu
teilen / litt es die Liebste nicht mehr“**. In diesen Versen klingt neben der privaten
Trauer um den Verlust der Geliebten auch die Unerträglichkeit der Stille, in der er lebt,
mit. Das Stille steht, ebenso wie das Leise in: Ich hör das Leise, ohne ihm zu lauschen”,
selbstbewußt als individuierendes Element. Das ,,Leise“ ist hier nicht idealer Zu¬
fluchtsort im Sinne einer Utopie. Es ist eine unwirtliche Welt, die es zu erleiden gilt,
doch es ist Kramers Welt, die er als ihm eigentiimlich betrachtet. Es fiigt sich in den
moralischen Zusammenhang des ,,leisen Wortes“ aus Andre, die das Land so sehr nicht
liebten. Denn ebenso wie das wahre Wort von Anderen nicht gehört wird, können
Andere das Stille, in dem er lebt, nicht erleiden. Wahres und Stilles fallen hier
zusammen, wenn auch in unerträglicher Weise’.
Als vorläufiges Ergebnis möchte ich festhalten: In den Motiven „Stilles“ und
„Leises“ versucht Kramer seinen eigenen Standpunkt zu finden. Durch die äußere
Bedrohung hat er die Ruhe in seiner äußeren Heimat verloren. In dieser Unheimlichkeit
des Daseins sucht er nach einer neuen Heimat. Er findet sie im Stillen und Leisen. In
dieser Hinsicht wird Kramer in der Tat Heimatdichter. Seine Heimat sind aber nicht
die österreichischen Landschaften, sondern seine Heimat ist das Stille und Leise. Er
sucht und findet eine neue Heimat im unheimlichen Nirgends der Angst.
In dem Gedankenkreis ‚„Leises“ und ‚Stilles“ entwickelt sich das Motiv der
„Leere“. „Seit langen leb ich schon ganz im Leeren“ °° deutet die für Kramer eigen¬
tümliche, oxymorotische Verwendung der Leere an, die in ‚‚die Leere auszuweiden“ 36
ihren rhetorischen Höhepunkt findet. In den Ausreisegedichten, noch eng verknüpft
mit ,,Stillem und „Leisen“ entwickelt sich die Figur, die ich als ‚‚Leere Entitäten“
bezeichnet habe: einem Sachverhalt, der nicht stofflich vorhanden ist, wird eine
personale Substanz eingehaucht. Er erhält so, ohne daß es ihm zukommt, eine ontolo¬
gische Position von ausgezeichneter Bedeutung. Das so hergestellte Seiende — um
nochmals die ontologische Operation zu beschreiben: ein Ding, dem an sich bloß Sein
zukommt, wird in den Status eines Seienden gesetzt, ohne daß in seinem Wesen dafür
ein Korrelat bestünde, weshalb ich den Begriff ‚leere Entität“ vorschlage — wird dann
als Partner und Maß des Ichs, respektive Kramers, gesetzt. Als hervorragendes Beispiel
möchte ich dafür „‚Dürres Laub, das sich vom Stengel trennt“ anführen: „Flucht der
Bäume, die sich scharf verkürzt, / Flug der Vögel, der ins Leere stürzt, / blasse
Zitterkringel letzten Lichts; / nehmt mich mit auf eurem Weg ins Nichts.“ ?”, des
weiteren: „‚Wie leer ich bin, sucht mich die Fülle heim;“?® und auf Vom Brot, das einst
ich nicht mehr aß?” oder Spätes Lied hinweisen. Diese Figur läßt sich leicht von anderen
rhetorischen Figuren abgrenzen. Denn ähnliche wie Personifikation, Metapher oder
Symbol muß man als Uneigentliche Rede verstehen: diese Figuren stehen für etwas
anderes. Doch ist für die leeren Entitäten maßgeblich, daß sie eben für nichts anderes
stehen, sondern für sich selbst Sein enthalten. In der strengen Ausprägung dieser Figur
korreliert diesen ‘Dingen’ keine dingliche Wirklichkeit. Das Abstraktum wird zum
Konkretum. In der freieren Form werden Vergänglichkeitssymbole wie Staub, Schim¬
mel, Rost, etc. zu diesen Konkreta.
Hier beginnt sich der Kreis zu schließen: Das Sich-Ängstigen vor der Unheimlich¬
keit des Daseins hat Kramer im Stillen-Leisen-Leeren eine neue Heimat finden lassen.
Diese Heimat wird bevölkert von den Leeren Entitäten, die kein Grund mehr zur Angst
sind, da ihr Nichts zu einem Etwas geworden ist. Er begibt sich in die Welt des Leeren,
um im Nichts das Sein zu finden, das ihm die Kraft gibt, die Angst zu ertragen. Aus
dem Nichts wird das Etwas der Leeren Entitäten, aus dem Nirgends die Heimat der
Leere. Dieser Gedankenstrom Kramers stellt eine kreative und innovative Bewältigung
der existenzialen Bedrohung der Angst dar. Kramer öffnet ein Fenster in eine neue
Interpretation der Welt.
1 Wie üblich zitiere ich Kramer nach der
Chvojka Ausgabe mit: Band/Seite,Stro¬
phe,Vers. Theodor Kramer: Gesammelte Ge¬
dichte in drei Bänden. Hg. v. Erwin Chvojka,
Wien: Europa 1984-1987. Zitiert wird die zwei¬
te, verbesserte und erweiterte Auflage des ersten
Bandes von 1989. Hier: 3/365; 2/245.
2 1/361.
3 Vgl.: Martin Heidegger: Sein und Zeit. Ich
zitiere die 17. Auflage druckgleich mit der 15.,
an Hand der Gesamtausg. durchges. Aufl.. Tü¬
bingen: Niemeyer 1993.
Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 185-186.
Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 186.
Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 187.
Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 185.
Vgl.: Heidegger, a.a.0., S. 186-187.
Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 189.
10 Vgl.: Heidegger, a.a.O., S. 188.
11 Vgl.: 1/341,11,3-4; 1/362,1,4; 3/352,11,8;
1/346,1,3; 3/531,IV,2; 1/350,1V,1-2, 1/354;
1/361,IV,3-4; 1/360,I1,4.
12 Vgl.: 3/531,1V,1-2;
1 /346,II],1-4.
13 Vgl.: 1/348, 1/345, 1/366.
14 Vgl.: 1/361,1V ‚3-4.
15 3/516,1,5.
16 3/516.
17 1/356,1,1; 1/357,13.
18 1/369,1IL5.
19 1/360,IV 1.
20 1/357.
21 1/369,I11,5.
22 Vgl.: 1/365,V,1-2; 1/353,1I1,7-8; 3/531,I18;
1/362,11,4.
23 1/357,IV 3.
24 1/358,1,2.
25 1/372,1,1.
26 1/357,1,3.
27 3/722,D,5.
28 1/480,1,6-7.
29 1/280: 22.5.1935.
30 1/280,V,1-4.
31 1/554.
32 1/554.
33 3/594,
34 Vgl.: Geborgen, (3/587,(1),3-4); Oh kms auf
mich nicht an (1/576,II); Vom Nicht-Beigeben
(2/455,1,3-4, II,1-4); Vom Nicht-Vergessen
(2/455,1I1, 1-4); Nicht fürs Süße, nicht fürs
Scharfe ... (3/640,1,2-4, II,3, VI.
35 1/366,II1,4.
36 3/536,11,3.
37 1/573.
38 3/599.
39 1/571.