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Chronist der laufenden
Ereignisse - zu Paul Blahas
Romanen

Moran, ein Mann dieses Jahrhunderts, findet
sich in einem zukünftigen Wien wieder: Die
konservative Revolution hat die absolute Macht
der Erfolgreichen, Starken und Tüchtigen pro¬
klamiert. Die Firmen stehen im Mittelpunkt des
Lebens der Bürger. Sie verstehen sich als
Freundin, Wohltäterin und erweiterte Familie —
Kinder und andere Angehörige werden betreut,
Kredite vermittelt. Pensionen ausbezahlt, Be¬
hördenwege erledigt, Steuerberater und Psych¬
iater gestellt... Die Medien, Krankenkassen,
Gewerkschaften, Pensionsversicherungen,
Schulen und Arbeitsämter sind privatisiert. Hu¬
manität wird als „Diktatur sozialer Sentimenta¬
litäten““ betrachtet. Deshalb gibt es auch keine
Sozialfürsorge mehr. Die Masse der ehemals
Betreuten ist ‚verkommen, abgekratzt, verhun¬
gert“. Wahlen werden pro forma bei einer Be¬
teiligung von 20 % abgehalten, aber die Pro¬
gramme der antretenden Parteien sind kaum
noch zu unterscheiden. Denn ‚‚die österreichi¬
sche Sozialdemokratie hat sich selbst aufgege¬
ben. Sie hatte der konservativen Offensive, die
zu Beginn der 80er Jahre anlief, nichts entge¬
genzusetzen.“

In der ‚schönen freien Welt“ hat sich die Da¬
tenfreiheit voll durchgesetzt — alles und jedes
wird mittels Chipkarte gespeichert und kontrol¬
liert. Als „Relikt der Aufklärung“ hat Moran
mit dieser Überwachung Probleme. Da er Erin¬
nerungen an ein anderes Leben gespeichert hat,
klassifizieren ihn die Behörde als Spinner, reif
für die Klapsmühle. Er flüchtet nach ,,Subur¬
bia“, in die Welt der Obdachlosen, Entrechte¬
ten, Kriminellen und Ausgestoßenen, die sich
in den wegen der Klimakatastrophe verwüste¬
ten ehemaligen Feriengebieten des Mittelmee¬
res angesiedelt haben. Von dort zieht er weiter
ins „Inferno“ der Dritten Welt, wo eine neue
Arbeiterbewegung in Form einer illegalen Ka¬
derorganisation aufgebaut wird.

Diese Antiutopie in der Nachfolge der Orwell
und Huxley erschien 1991, unmittelbar nach
dem Zusammenbruch des sogenannten „real
existierenden Sozialismus“. Die Figuren der
Handlung in Blahas darauffolgendem Buch
„Die Hinterbliebenen“ sind bewußt oder unbe¬
wußt beeinflußt vom Ende jener in Jalta 1945
zwischen den Siegermächten des Zweiten
Weltkrieges ausgehandelten Weltordnung: Bei
manchen von ihnen herrscht Trauer wegen der
Korrumpierung des Sozialismus; andere disku¬
tieren über modernistische Tendenzen im
Kunstbetrieb; ein alter Nazi kommt nicht von
seiner Vergangenheit los; ein Journalist ist den
Verbindungen alter Ustascha-Leute zu den
österreichischen Massenmedien auf der Spur —
und wird zurückgepfiffen...

Der Zerfall Tito-Jugoslawiens, verursacht ‚‚we¬
niger durch wirtschaftliche Inkompetenz des
Selbstverwaltungssozialismus als durch unbe¬
wältigte Vergangenheit“, ist dann das zentrale
Thema von Blahas eben erschienenem letzten

Buch „Recherche“, dessen Handlung in meh¬
reren überlappenden Ebenen abläuft: Der US¬
Bürger Felix Dohnal, der seinen aus Jugosla¬
wien stammenden Vater bereits im Alter von
vier Jahren verloren hat, begibt sich in die neu
entstandene Republik Slowenien auf eine Art
Stipp-Visite in die Geschichte seiner Vorfah¬
ren. Eine Art Familienchronik, die sein Vater
hinterlassen hat, benutzt er als Guide zum Auf¬
finden von noch lebenden Zeitzeugen. Durch
deren Befragung kristallisiert sich für ihn ein
immer dichteres Bild der nationalen und politi¬
schen Wirren des ,,Grenzlandes“ um Maribor
und des jugoslawischen Widerstandskampfes
im 2. Weltkrieg heraus. Zugleich verliebt sich
Dohnal in Nada, die Frau eines Serben aus
Bosnien, der in der jugoslawischen Bundesar¬
mee noch immer gegen die Moslems kämpft,
und verstrickt sich so persönlich in die aktuelle
Katastrophe der Balkanvölker. Je länger Doh¬
nal recherchiert desto mehr nimmt er Züge der
Hauptfigur aus Drago Jancars Roman ,,Server¬
ni sij* an, den er in seinem Reisegepäck in der
englischen Fassung ‚‚Northern Lights“ mitsich
führt. Wie Josef Erdmann, ein aus Marburg
stammender Kaufmann, der nach jahrelanger
Abwesenheit seine nunmehr slowenische Ge¬
burtsstadt wiederentdeckt, zerbricht er an der
Aussichtslosigkeit einer Zuneigung zu einer
Frau; zuletzt ersäuft er seinen Kummer im Al¬
kohol und führt Selbstgespräche, in denen er
sich seiner Unfähigkeit, Anteilnahme an irgend
jemandem und irgend etwas zu nehmen, versi¬
chert.

„Ich bin sprachlich nicht eitel“ , räumt Blaha in
Interviews gerne ein. „Mir genügt es, ordentli¬
ches Deutsch zu schreiben.“ Solche Aussagen
sind sicher ein Understatement, aber sie ma¬
chen deutlich, wie groß die Skepsis des ehema¬
ligen Chefredakteurs der Illustrierten ,,Quick“,
Theaterkritikers und Leiters des Wiener Volks¬
theaters gegenüber der gerade bei österreichi¬
schen Gegenwartsliteraten grassierenden Nei¬
gung zum im Nirgendwo angesiedelten forma¬
len Experiment ist. Blahas Geschichten basie¬
ren auf penibel zusammengetragenen histori¬
schen und sozialgeschichtlichen Fakten — der
Gang der Geschichte selbst liefert das ästheti¬
sche Programm. Auch bei den Verbrechen, die
er rapportiert, sind für aufmerksame Zeitungs¬
leser Täter, Ort und Zeitpunkt oft feststellbar.
Manchmal gibt es sogar für seine Figuren reale
Vorbilder. Immer sind seine Akteure aber Anti¬
Helden, die von ihrem Umfeld zu bestimmten
Handlungen geradezu getrieben werden. Damit
verknüpft sich Blaha mit jenem (abgerissenen)
Traditionsfaden in der politisch engagierten
österreichischen Literatur, der etwa durch Ru¬
dolf Brunngrabers Romane ,,Karl und das 20.
Jahrhundert“ und „Zucker aus Cuba“ reprä¬
sentiert wird.

Fritz Keller

Bücher Paul Blahas:

Schöne freie Welt. München: Langen-Müller
1991. 293 S. OS 280,-.

Die Hinterbliebenen. Innsbruck: Haymon-Ver¬
lag 1994. 317 S. OS 280.-.

Recherche. Innsbruck: Haymon-Verlag 1996.
252 S. OS 280,-.

Das Eingemachte. Novelle. Mit Zeichnungen
von Adolf Frohner. Wien: Edition Splitter
1996. 109 S. OS 340.-.

Uber zwei neue Wiener jiidische
Autobiographien

Unter den zahlreichen jüdischen Autobiogra¬
phien, die derzeit auch von Wiener Verlagen
publiziert werden, ragen zwei besonders her¬
vor.

Sonia Wachstein veröffentlichte mit ihren Er¬
innerungen nicht nur ein äußerst lebendiges und
kluges Porträt ihres Vaters Bernhard Wachs¬
tein, sondern damit auch eine wichtige Quelle
für das Milieu und Bewußtsein der einst großen
und berühmten jüdischen Gemeinde in Wien,
wie sie seit der Shoah so nicht mehr existiert.
Wachstein, langjähriger Direktor der bedeuten¬
den Bibliothek der Wiener Israelitischen Kul¬
tusgemeinde, war führendes Mitglied der B’nai
B’rith und Verfasser zahlreicher wichtiger wis¬
senschaftlicher Arbeiten — darunter ‚Die In¬
schriften des alten Judenfriedhofes in Wien“,
„Die Grabschriften des alten Judenfriedhofes
in Eisenstadt“ und „Diskussionsschriften über
die Judenfrage. Das neue Gesicht des Antisemi¬
tismus“. Er war nach den Schilderungen seiner
Tochter aber auch ein außergewöhnlicher
Mensch. Obwohl er aus einem galizischen
Schtetl stammte, war er erfüllt von von der
Liebe zur weltlichen Bildung und zur Natur.
Obwohl sie heute bedauert, wie wenig sie zu
seinen Lebzeiten versucht hat, das Genie ihres
Vaters zu verstehen, zeigen ihre Beschreibun¬
gen seiner Persönlichkeit und Umgebung nicht
nur sehr viel Verständnis und Liebe, sondern sie
überliefern auch ein authentisches Bild der
Identität und des jüdischen Selbstverständnis¬
ses dieser einst so bedeutenden und grausam
zerstörten Gemeinde. In dem Kapitel über sei¬
nen Tod 1935 versucht sie seinen Widersprü¬
chen auf die Spur zu kommen; denn er war nicht
orthodox, aber doch erfüllt von der Liebe zur
jüdischen Kultur und Gemeinschaft, und er war
kein Zionist, weil er sich Hebräisch nicht als
eine lebendige Sprache vorstellen konnte, aber
auch, wie seine Tochter vermutet, weil es ihm
widerstrebt hatte, ,,sein geliebtes Wien und sei¬
ne unmittelbare Umgebung“ zu verlassen.
Trotz dieses Hintergrunds engagierte sich So¬
nia Wachstein nicht in der jüdischen Gemeinde.
Ihr waches soziales Bewußtsein, das auch im
Buch immer wieder durchscheint, führt sie zu
den Revolutionären Sozialisten. Sie versteckt
Propagandamaterial ‘und einige Schutzbund¬
kämpfer in ihrem Elternhaus in Wien-Hüttel¬
dorf.

1933 trat sie in das berühmte Chajes Gymnasi¬
um als Lehrerin ein. Die Schilderung der Atmo¬
sphäre dieser Schule, dessen Schüler sich heute
noch treffen, und der komplizierten Persönlich¬
keit des Direktors Viktor Kellner gehört eben¬
falls zu den interessantesten Abschnitten des

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