Hat Kalmar die Erinnerung an das Österreich der Zwischenkriegszeit, die Jahre der
wirtschaftlichen Not, der Massenarbeitslosigkeit, der zunehmenden Auseinandersetzung
zwischen Sozialdemokatie und nationalem Faschismus idealisiert? Oder ist es vielmehr ein
Wesenszug des „‚Heimwehträgers‘“, den man in moderner Diktion auch als Meister des
positiven Denkens bezeichnen könnte, die dunklen Seiten des Lebens ins Schattenreich der
unerwünschten Erinnerungen zu bannen? Keine Verdrängung, würde ich sagen, eher eine
in langen Jahren erworbene Charaktereigenschaft, an das Gute im Menschen zu glauben.
Eine Eigenschaft, die sicher auch den Auswahlmechanismus der Erinnerung beeinflußt. So
kann der alte Herr heute noch schelmisch lächeln, wenn er sich erinnert, wie in seiner Jugend
arischen Radfahrern aus der Leopoldstadt „‚Saujud‘“ nachgerufen wurde. Die Fahrräder
hatten nämlich damals Nummerntafeln, bestehend aus einem Buchstaben, dem Anfangs¬
buchstaben des Wohnbezirks, und einer Nummer. Zum Beispiel „L“ für die vorwiegend
jüdische Leopoldstadt, den zweiten Wiener Gemeindebezirk. Wenn nun ein arischer Radler
mit dem ,,L“ auf der Tafel durch die Stadt fuhr, so konnte es ihm schon passieren, daß er
von den „echten Wienern“ mit dem schlimmsten Schimpfwort bedacht wurde, dessen ein
reinrassiges Hirn fähig war.
Im Wasa-Gymnasium, dessen Schüler Kalmar acht lange Jahre bis zur Matura war
— wie viele andere namhafte Vertreter des österreichischen Kulturlebens: Stefan Zweig,
Friedrich Torberg, Erich Fried, Marcel Prawy... —, war von Antisemitismus allerdings
wenig zu spüren, denn die Mehrzahl der Schüler in seiner Klasse war jüdisch. Schon
damals fühlte sich der scheue schmalwüchsige Junge stark zu Literatur und Theater
hingezogen, schrieb erste Gedichte und Stücke für Schüleraufführungen. Wie es der
Zufall will, zeigt gerade während Kalmars diesjährigem Wienaufenthalt das Jüdische
Museum eine Ausstellung über den von den Nazis ermordeten Autor und Kabarettisten
Peter Hammerschlag, der den neun Jahre jüngeren Schüler stark beeinflußt hat.
Ich bin mit ihm in Verbindung getreten, und in der achten Klasse hat er mit uns eines
seiner Stücke einstudiert. Ein friedlicher, heiterer Mensch.
Fast siebzig Jahre später ist Kalmar bei der Eröffnung der Hammerschlag-Gedenk¬
austellung dabei.
Später, im Exil, sollte die Vorliebe fürs Theater Fritz Kalmars Leben eine Wendung
geben. 1939 kommt er nach Bolivien. Ein Bruder, Ernst, der in der Leopoldstadt ein
Cafe betrieben hatte, ist schon vorher auf abenteuerliche Weise und unvorhergesehen
in den Andenstaat gekommen, da er in Peru keine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Ein
zweiter Bruder, Heinz, kommt später nach, ebenso die Mutter. Der Exilösterreicher
erinnert sich:
In La Paz traf ich mit zwei Menschen zusammen, die für mich lebensentscheidend
waren: das Ehepaar Terramare. Erna Terrel und George Terramare. Sie waren
unglücklich, so weit weg vom Theater zu sein. Eines Tages habe ich ihm gesagt:
Schauen sie, es gibt doch hier Leute, mit denen sie ein bißchen Theater machen können,
und habe ihm einige Namen genannt. Er war ganz beglückt von dem Gedanken, und
da habe ich dann begonnen, Theater zu spielen.
Der Wiener George Terramare, katholischer Industriellensohn jüdischer Her¬
kunft, war ein im deutschen Sprachraum anerkannter Theaterregisseur und -leiter,
zuletzt im tschechischen Troppau. Aus seiner Zeit bei den ,, Wiener Schottenspie¬
len“ (im Wiener Schottenstift) kannte er die Schauspielerin Erna Beutel, die sich
später, nach der Heirat mit Terramare, den Künstlernamen Terrel zulegte. Am
Deutschen Theater in Prag war Erna Terrel eine beliebte und erfolgreiche Schau¬
spielerin, als die Nationalsozialisten die Tschechoslowakei besetzten. Sie stellten
der populären Künstlerin eine glänzende Karriere bei Theater und Film in Aussicht,
wenn sie sich von ihrem jüdischen Mann scheiden ließe, doch Erna Terrel lehnte
ab. Das Künstlerpaar floh über Italien und Chile nach Bolivien; zwei Tage nach
ihrer Abreise aus Prag drang die Gestapo in ihre Wohnung ein, um die beiden zu
verhaften.
Etwa 12.000 in Österreich gebürtige Menschen - der Großteil jüdischer Herkunft — flohen
vor dem Nationalsozialismus nach Lateinamerika und ließen sich dort, aus klimatischen
und wirtschaftlichen Gründen, vor allem im südlichen Teil des Kontinents nieder. Etwa ein
Zehntel von ihnen verschlug es nach Bolivien, in den isolierten Andenstaat mit seiner
großteils indianischen Bevölkerung, dessen Hauptstadt La Paz auf fast viertausend Meter
Meereshöhe liegt. Das Andenland war - im Gegensatz zum städtischen, hochentwickelten
Argentinien - eine in sich geschlossene und nach westlichen Begriffen völlig rückständige
Gesellschaft, in der mehr als ein Viertel der Bevölkerung auf dem Lande lebte und
analphabetisch war. „Wir paßten hierher wie die Faust aufs Auge“, so faßte der spätere